
Römer 14,7-13
«Genau umgekehrt» | Predigt zu Röm 14, 7-13 | am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres | am 17. 11. 2024 | Dörte Gebhard |
«Genau umgekehrt»
Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde
Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi. (2. Kor 5, 10a)
Bis dahin aber, so empfiehlt Paulus, sollten wir selbst viel weniger Richterstühle zimmern, als wir es gewohnt sind.
Hören Sie dazu aus dem Römerbrief im 14. Kapitel:
7 Keiner von uns lebt für sich selbst, und keiner stirbt für sich selbst.
8 Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir nun leben oder sterben, wir gehören dem Herrn.
9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden: dass er Herr sei über Tote und Lebende.
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Und du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen.
11 Denn es steht geschrieben:
‘So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich beugen jedes Knie,
und jede Zunge wird sich zu Gott bekennen.’
12 Es wird also jeder von uns für sich selbst Rechenschaft ablegen müssen vor Gott.
13 Wir wollen einander also nicht mehr richten! Achtet vielmehr darauf, dem Bruder keinen Anstoss zu geben und ihn nicht zu verführen.
I
Liebe Gemeinde
Ist es nicht genau umgekehrt?
Von wegen: Keiner von uns lebt für sich selbst …
Jeder will doch leben für sich selbst!
Wir schreiben die Individualität möglichst gross und berücksichtigen sie meist vor allem anderen.
Jeder darf doch nach eigenen Massstäben entscheiden.
Jede bestimmt doch, wie es im eigenen Leben zugehen soll.
Autonom handeln können gilt als hoher Wert – obwohl es absurd ist, daran zu glauben, weil es totale Unabhängigkeit für Menschen gar nicht geben kann. Niemand hat sich z.B. selbstbestimmt zur Welt gebracht, niemand von uns hat vorgängig über die äusseren Umstände des Lebens entschieden.
Trotzdem:
Selbstständigkeit gehört zu den höchsten Werten in unserer Gesellschaft.
Wer sie noch nicht hat, muss in die Schule,
wer sie nicht mehr hat, tut sich oft schwer, es zu akzeptieren,
wer sie nie hatte, wird meistens stark bedauert.
Jeder Mensch soll doch nach seiner eigenen Façon selig werden, lautet die Parole.
Von ihr versprechen sich viele grosse Freiheit … und erleben grosse Einsamkeit.
Ist das, was ein Mensch will, immer das, was ein Mensch braucht?
II
Ist es nicht genau umgekehrt, inzwischen auch im Sterben?
Will nicht so mancher sterben für sich selbst?
Es gibt unterdessen den sogenannten «Sarco»[1], eine Suizidkapsel, einen chic glänzenden Sarkophag, in den man sich – ganz für sich selbst – legen soll, um «medikamentenfrei», um freiwillig, und friedlich zu sterben. Selbstredend selbstbestimmt, sogar abgeschnitten von der Aussenwelt. Stylisch-stromlinienförmig designt, wird er mit dem verführerischen Versprechen beworben, dass das Sterben für sich selbst ganz besonders schön und absolut simpel sei. Das vorgesehene Ersticken an akutem Sauerstoffmangel durch Einleiten von Stickstoff in die Kapsel soll überdies äusserst billig sein. Die Sterbensqual stelle ich mir brutal vor.
Noch einmal:
Ist das, was ein Mensch will, immer das, was ein Mensch braucht?
III
Liebe Gemeinde
Ist es nicht genau umgekehrt – im Gegensatz zu dem, was Paulus schreibt?
Ganz besonders, was das Erscheinen vor dem Richterstuhl Gottes angeht?!
Paulus schreibt: Es wird also jeder von uns für sich selbst Rechenschaft ablegen müssen vor Gott.
Da, so stelle ich mir vor, ist dann kaum jemand so sehr auf seine eigene Individualität bedacht.
Da wird dann viel weniger Wert auf selbstbestimmte Entscheidungen gelegt.
Da sind dann eher viele andere schuld:
Die Umstände überhaupt.
Oder die Kindheit.
Oder die Partnerin.
Oder der Chef.
Oder die Ärzte.
Oder die (un-)sozialen Medien.
Oder die Freunde von früher.
Oder das fehlende Geld.
Oder die Gruppendynamik.
Oder die Gesellschaft insgesamt.
Oder nicht?!
Gott muss dieses Herumgeschiebe von Schuld elend langweilig finden. Wir kennen es auch schon länger als es schön ist, aus dem allerersten Garten:
Adam wird selbst gefragt, aber er sagt: Es war aber Eva.
Die wird selbst gefragt. Aber sie sagt: Es war doch die Schlange!
Für sich selbst einstehen?
Niemand sagt gern:
Ich war’s. Ich habe in dieses Obst gebissen, obwohl ich frei war und grosse Auswahl hatte, etwas anderes zu kosten.
Oder:
Ich war’s, ich habe zugegriffen, als es mir angeboten wurde, weil es so verlockend war.
Eine solche Einsicht für sich selbst ist nicht das, was ein Mensch will, aber es ist das, was ein Mensch braucht!
IV
Aber es läuft tendenziell und meistens verkehrt.
Gottes Richterstuhl wird am liebsten links liegengelassen.
Vakant bleibt dieser Platz nicht für einen Augenblick.
Der Mensch macht sich selbst zum Richter.
Dann übernimmt er auch gleich noch die Rolle des strengen Anklägers und übersieht dabei, dass er dann auch der hoffnungslos Angeklagte ist.
Glaubt ein Mensch, selbst richten zu müssen, wird er damit zugleich selbst gerichtet. In der Philosophie hat es Odo Marquard die menschengemachte «Übertribunalisierung» des Lebens genannt:
«Mit welchem Recht gibt es dich überhaupt und nicht vielmehr nicht, und mit welchem Recht bist du so, wie du bist, und nicht vielmehr anders?»[2]
Das ist nicht auszuhalten, weil es verkehrt ist.
Odo Marquard beschreibt etliche Fluchtversuche vor diesen zwar selbstgezimmerten, aber zutiefst unmenschlichen Richterstühlen.
(Er hat dabei eine recht grosse Portion Schalk im Nacken.)
- Die Leute zieht es z.B. raus in die Natur; dort ist man schlechter zu erreichen für Schuldzuschreibungen aller Art.
- Die Leute wollen, wenn sie denn daheim sind, lieber anonym wohnen.
- Die Leute gehen gern auf Reisen, am besten lange und weit – und wer nicht fliegen will, nimmt den längsten Fussweg, der auf dem Planeten möglich ist, von Kapstadt in den Osten Sibiriens, nach Magadan. Ungefähr 22’000 km, wenn man sich nicht oft verläuft. Das wäre etwas für Jona, den Gottesflüchter gewesen …
- Oder die Leute werden krank – wer nicht zurechnungsfähig ist, dem kann man keine Vorwürfe machen.
V
Zuletzt aber wird es doch richtig, weil umgekehrt sein!
Gott ist Richter – und wir können uns allmählich abgewöhnen, selbst über alle und damit auch über uns selbst zu richten. Wir können umkehren und aufhören, zugleich als eingebildete Richterinnen, Anklägerinnen und Angeklagte zu amtieren.
«Aber man wird ja wohl noch etwas sagen dürfen?»
Natürlich!
Hier ist niemand unter uns, der nicht schon beurteilt wurde.
Kaum können wir laufen, spielen wir Vater, Mutter, Kind und sind dabei manchmal ziemlich streng mit Teddys und Puppen.
Kaum können wir bis drei zählen, bekommen wir in der Schule Noten von Eins bis Sechs.
Kaum schreibe ich eine Predigt, wird sie beurteilt und kommentiert, ehe sie im Internet publiziert wird.
Aber darüber hinaus gilt: Wir wollen einander also nicht mehr richten!
Paulus weiss, dass er sofort Vorschläge machen muss, wie die daraus entstehende Freizeit genutzt werden kann: Achtet vielmehr darauf, dem Bruder [und der Schwester] keinen Anstoss zu geben und ihn nicht zu verführen.
Die anderen sind gar nicht an allem schuld!
Und die Umstände? Die kann man ändern, wenn man bei sich selbst beginnt.
Und die Kindheit? Ist, sogar, wenn sie gar nicht gut war, zum Glück vorbei!
Und der Partner? Auf ihn kann ich Rücksicht nehmen, ganz ohne Gesichtsverlust.
Und die Chefin? Eigentlich ist sie erträglich. Sie wiederum leidet auch manchmal unter ihrem Chef.
Und die Ärzte? Sie tun ihr Bestes, trotz 24-h-Schichten und Personalmangel.
Und in den sozialen Medien? Da kann ich gute Worte posten. Jede Menge! Vielleicht heute erst nach der Kirchgemeindeversammlung, nicht jetzt gleich.
Und die Freunde von früher? Kann ich nicht mit ihnen Kontakt aufnehmen? Sie sind sicher auch nicht mehr das, was sie früher mal waren.
Und das fehlende Geld? Ich gebe es zu: Es hat mich auch vor mancher Dummheit bewahrt.
Und die Gruppendynamik? Die liegt sehr oft auch an mir.
Und in der Gesellschaft insgesamt? Da kann ich meinen Teil beitragen.
Zugegeben: Er ist klein, aber oho!
Oder nicht?!
Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi. (2. Kor 5, 10a)
Gott wird richten und es wird darum gut ausgehen, weil unsere Richtersprüche über die einen oder die anderen dann nichts mehr gelten. Weil Gott uns kennt und doch bei seinen, sehr anderen Massstäben bleibt.
Weil Gott uns kennt und dennoch liebt, haben wir am Anfang gesungen.
Schon beim Propheten Jesaja heisst es von Gott:
Mir wird sich beugen jedes Knie,
und jede Zunge wird sich zu mir bekennen.
Paulus schreibt das sicherheitshalber nochmal ab, falls die Römer gerade keine Schriftrolle vom Propheten Jesaja zur Hand haben:
‘So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich beugen jedes Knie,
und jede Zunge wird sich zu Gott bekennen.’
Jedes.
Jede.
Aber was machen wir jetzt?
Wir werden Abendmahl feiern in aller Vorfreude auf Gottes Gericht.
Bei der Kirchgemeindeversammlung im Anschluss werden wir üben, niemandem Anstoss zu geben.
Beim Mittagessen probieren wir aus, nicht bloss für sich selbst zu leben, sondern vielleicht wieder einmal so zu beten:
«Jedes Tierlein hat sein Essen,
jedes Blümlein trinkt von Dir,
hast auch unser nicht vergessen,
lieber Gott, wir danken Dir!»
Beim Kaffeetrinken erholen wir uns und zimmern keine Richterstühle für uns selbst.
Und ab heute Nachmittag und für allezeit stärke und bewahre uns der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft. Amen.
—
[1] Quelle: https://www.thelastresort.ch/deutsch/, abgerufen am 10. 11. 2024.
[2] Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1991, S. 50; vgl. dann S. 51-55.