Römer 2,1-11

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„Wir alle fallen “ | Buss- und Bettag | 19.11.25 | Röm 2,1-11 | Martina Janßen |

 

Prozesse faszinieren. Die Boulevardmedien sind voll davon. Wenn die Medien erstmal angesprungen sind, gibt es kein Ansehen der Person. Es trifft jeden und jede. Auch die ganz oben fallen. Die Unternehmerin Christina Block muss sich wegen mutmaßlicher Kindesentführung verantworten, der österreichische Finanzberater René Benko wegen mutmaßlichen Betrugs und Prinz Andrew verliert alle seine Titel wegen seiner mutmaßlichen Verwicklungen in den Epstein-Skandal. Viele Menschen konsumieren solche Geschichten, viele interessiert das. Ich glaube, da geht es nicht nur um Sensationslust oder Voyeurismus, sondern auch um Gerechtigkeit und Gleichheit, um Schuld und Strafe, um Scham und Sühne. Das sind schwierige Themen, wo viele Schieflagen möglich sind. Der eine zeigt mit dem Finger immer nur auf andere, die andere sucht die Schuld immer nur bei sich selbst. Das ist auch nicht gut. Schuld sind auch mal die anderen. Manchmal inszenieren sich Täter als Opfer oder Opfer werden zu Tätern gemacht. Es gibt Vorverurteilungen, Fehlurteile und Bauernopfer, Kavaliersdelikte, die keine sind, und diejenigen, die immer davonkommen. All das betrifft uns alle, mehr oder weniger, als Opfer oder als Täter oder gleich beides zugleich. Wir alle laufen Gefahr, von anderen gerichtet zu werden oder selbst zu richten. Nicht nur in den Gerichtssälen, wo das Richten und Gerichtet-Werden seinen legitimen Ort hat und wo Recht gesprochen werden muss, damit Gesellschaft funktioniert und Leben geschützt wird. Geurteilt und verurteilt wird auch woanders – in den sozialen Medien, mit Blicken und mit Worten, mitten auf der Straße oder am Gartenzaum – und nicht immer geht es dabei gerecht zu.

„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ (Joh 8,7) Jeder und jede ist schuldig. Natürlich muss man Unterschiede machen. Es gibt strafrechtlich relevante Verbrechen mit Opfern, die Unrecht erlitten haben, und Tätern, die Recht gebrochen haben und über die Recht gesprochen wird. Aber es gibt auch jene Alltagsschuld, die uns alle betrifft und in die wir uns allzu leicht verstricken. Da mache ich mich schuldig, auch wenn ich es nicht will und es manchmal auch gar nicht weiß. Wenn ich unwissend andere verletze, einfach weil ich eine Situation nicht richtig einschätzen kann und vielleicht Salz in eine Wunde streue, von der ich gar nicht weiß, dass es sie überhaupt gibt. Wenn ich billige Fast-Fashion kaufe, zahlt irgendwo auf der Welt irgendein anderer Mensch einen hohen Preis, weil er sich aus Not weit unter Wert verkaufen muss. Wenn ich exklusiven Life-Style-Kaffee konsumiere und nicht weiß, dass ich damit Zwangsarbeit und Menschenhandel unterstütze, sorge ich dafür, dass das System funktioniert und sich das Rad von Not, Ausbeutung und Ausweglosigkeit immer weiter dreht. Wegen solcher Vorwürfe steht die Kaffeekette „Starbucks“ gegenwärtig in der Kritik. In unserer komplexen und globalen Welt lauert die subversive Alltagsschuld an jeder Ecke. Verwundungen von Menschen sind oft unsichtbar, Lieferketten brüchig und Steuerschlupflöcher groß. Selbst mit öko-fair und regional ist die Welt nicht zu retten, aber es macht sie ohne Zweifel besser und gerechter. Doch so sehr man sich auch bemüht, unser Leben ist mit Schuld durchzogen: Wir strampeln uns darin ab wie in einem Spinnennetz.

Da war schon immer so. Seit Adam und Eva. Die erste Geschichte über eine geschwisterliche Beziehung ist der Brudermord: Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Es steckt in uns allen: Täter und Opfer. „Kain und Abel – das ist beinahe die Essenz der ganzen Weltgeschichte“ (Salcia Landmann). Man kann sich aus dieser Schuldgeschichte nicht ausklinken, selbst auf einer einsamen Insel mit kompletter öko-fairer Selbstversorgung nicht. Denn dann überlässt man die sündige Welt sich selbst, dann überlässt man sie den Tätern und lässt die Opfer zurück, dann überlässt man die Opfer den Tätern, lässt sie allein, lässt einfach zu, was geschieht. „An allem Unfug, der geschieht, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern“ (Erich Kästner).

Jeder kann schuldig werden. Es gibt Situationen, in denen man es einfach nicht gut machen kann, auch wenn man es noch so gut meint, da gibt keine wirkliche gute Lösung, sondern nur die bestmöglichste. Wenn einander widerstreitende Pflichten oder Loyalitäten kollidieren, wird jede emotionale, moralische oder juristische Güterabwägung zur Gradwanderung. Es gibt nicht immer eine eindeutige Entscheidung für gut oder böse. Manchmal muss man sich zwischen Optionen entscheiden, die beide etwas Schlechtes in sich tragen. Ein unlösbares Dilemma, eine Tragik, der man nicht entrinnen kann. Man macht sich die Finger schmutzig, auch wenn man sich noch so oft die Hände in Unschuld wäscht; man kann nur hilflos zusehen, wie die weiße Weste immer mehr dunkle Flecken bekommt. „Man kann auch schuldig werden, ohne es zu sein“ (Carl Zuckmeyer).

Zurzeit brauen sich immer mehr Kriegswolken zusammen – in den Medien und im Bewusstsein vieler Menschen. Gaza, Ukraine, Sudan, das konkrete Nachdenken über eine Wehrpflicht. Krieg ist genau so eine Situation, in der man verdammt ist, schuldig zu werden, was man auch tut – wenn man mitmacht, aber auch dann, wenn man sich zu entziehen versucht. Was wäre geschehen, hätten die Alliierten dem Wüten der NS-Diktatur einfach zugesehen ohne einzugreifen? Wie ist es heute mit jenen unlösbaren Konflikten und Tyrannen, an denen jede Diplomatie scheitert, wo alle politischen Bemühungen ins Leere laufen? Irgendwann kommt der Punkt, an dem es nicht richtig machen kann, an dem man schuldig wird, so oder so: Wenn man bereit ist, zu töten – und Krieg ist immer Töten von Menschen, egal auf welcher Seite –,  aber auch wenn man das Töten lässt. Denn dann lässt man zu, dass andere töten und wieder andere getötet werden. Wenn Rechte von Menschen und Völkern massiv verletzt werden, wäre Radikalpazifismus dann nicht unterlassene Hilfeleistung? Doch ist nicht auch jeder vermeintliche Feind ein Bruder und jeder getötete Mensch Opfer eines Brudermordes? Ich fürchte, niemand kommt da raus, am Ende alle sitzen auf der Anklagebank.

Römer 2,1-11: 1 Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. 2 Wir wissen aber, dass Gottes Urteil zu Recht über die ergeht, die solches tun. 3 Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? 4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? 5 Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, 6 der einem jeden geben wird nach seinen Werken: 7 ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; 8 Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; 9 Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun, zuerst der Juden und auch der Griechen; 10 Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. 11 Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.

Paulus greift Gedanken auf, die sich schon bei Jesus finden. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 7,1). Andere richten ist ja einfach, damit zieht man sich selbst aus der Schusslinie. Doch damit kommt man bei Jesus nicht durch. Alle sind schuldig, mehr oder weniger. „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ (Mt 7,3). Auch Paulus ermahnt die, die meinen, sich über andere erheben und sie richten zu können und dabei Gerechtigkeit mit Selbstgerechtigkeit verwechseln. Das tut der Gemeinschaft nicht gut. Das zu betonen, finde ich wertvoll, wir sitzen doch alle in einem Boot, sind alle in kleine oder große Schuldgeschichten verstrickt. Anstelle hart übereinander zu richten würde ein gnädiger Umgang miteinander besser und angemessener sein. „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Wenn alle diese einfache, aber goldene Regel beachten würden, würden alle leichter leben, miteinander und vor Gott. Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun.

Aber das ist nicht alles, in Ethik und Moral erschöpft sich das, was Paulus sagt, nicht. Es geht Paulus um mehr. Unser Predigttext ist nur ein Baustein in seiner Argumentation, die letztlich auf den Reichtum von Gottes Güte, seine Geduld und Langmut zielt. Doch dazu muss man sich eingestehen, wie es ist und wie man wirklich ist. Genau das wäre der Weg aus Angst und Schuld. Doch den versperren wir uns oft. Unsere Schutzmechanismen sind ausgefeilt; die Barrikaden, hinter denen wir uns verschanzen, hoch. Wer will schon schuld an etwas sein und sein Gesicht verlieren? Wer will schon zugeben, dass sein Leben voller Brüche und Schatten ist gerade in unserer Welt der Selbstoptimierung, wo man über jeden Zweifel erhaben sein muss? Das ist schwer. Was entwickeln wir nicht alles für ausgefeilte Techniken, um dem zu entkommen? Dann verdrängt und leugnet man, dann rechtfertigt man sich vor sich selbst und vor den anderen, indem man alle Schuld von sich weist: „Ich kann nichts dafür, anders ging es nicht, ich hatte ja nicht wirklich eine Wahl.“ Oder man relativiert alles: „Daran kann ich ja eh nichts ändern, das müssen andere tun, die mehr Einfluss und Macht haben.“ All das ist menschlich, allzu menschlich. Doch vielleicht ahnen wir manchmal, dass wir nicht bestehen können, dass wir dem Urteil Gottes nicht entrinnen können, dass wir uns immer wieder – oft vielleicht auch schuldlos – in Schuld verstricken? Und dann tut es weh, wenn das Gewissen beißt und die Zweifel nagen.

Paulus überführt die Menschen, führt sie heraus aus ihrer Selbstgerechtigkeit, führt ihnen ihre Grenzen vor Augen, führt sie so zu sich selbst und zum Reichtum von Gottes Güte, seine Geduld und Langmut. Für mich spricht Paulus wie ein Staatsanwalt, aber einer, der anklagt, damit der Schuldige freigesprochen wird. „Tag des Zorns, Gericht Gottes“ – Erst klingt es schmerzhaft, doch vielleicht muss es manchmal wehtun, damit etwas wieder heil wird. Manche kennen das von medizinischen Behandlungen. Und es tut auch weh, Schuld einzugestehen, für etwas geradezustehen und um Verzeihung zu bitten. Aber danach kann man wieder aufrecht stehen und dem anderen ins Gesicht und sogar direkt in die Augen sehen. Und es tut auch weh, sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht, aber wenn man das erst geschafft hat, können aus Sackgassen neue Wege werden. Gottes Gericht stelle ich mir so ähnlich vor wie jene Momente, in denen durch den Schmerz hindurch ein neues Leben beginnt. Ich stelle mir Gottes Gericht wie einen Moment vor, in dem Licht in die dunkelsten Ecken meiner Seele fällt, in dem ich klar sehe, wo ich mich selbst klar sehe, nicht wie in einem dunklen Spiegel (1 Kor 13,12), sondern nackt und ungeschminkt, ohne Filter und ohne Masken, die Schleier sind gelüftet und die Fassaden bröckeln. Vielleicht ist es so. Dann sieht man sich ins Angesicht, so wie man ist. Es kann sein, dass einem das gar nicht gefällt. Vielleicht sieht man in einen Abgrund. „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht“ (Georg Büchner). Vielleicht falle ich in diesem Moment, vielleicht fällt meine ganze Lebenskonstruktion wie ein Kartenhaus in sich zusammen, vielleicht fällt mein Innerstes in 1000 Stücke auseinander, vielleicht falle ich ins Bodenlose. Doch in Gottes Strafspruch ist Gnade gewebt, unermesslicher Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut. „Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. // Und sieh dir andre an: es ist in allen. // Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen // unendlich sanft in seinen Händen hält“ (Rainer Maria Rilke). Wir werden leben. Es liegt in Gottes Hand.


PD Dr. Martina Janßen
Hildesheim
dr.martina.janssen@evlka.de

Martina Janßen, geb. 1971, Privatdozentin für Neues Testament (Universität Göttingen), Pastorin der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers