Römer 3,21-28

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Gottes Liebe schenkt dir Leben! | Reformationsfest | 31.10.2024 | Röm 3,21-28 | Peter Schuchardt |

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder,

Lisa steht vor dem Spiegel. Immer wieder dreht sie sich hin und her. Sie hat die neue Bluse an, die sie bei der Influencerin gesehen hatte. So wollte sie auch aussehen! So hübsch, so strahlend, so schön. Die Bluse hatte viel Geld gekostet, heute war sie endlich angekommen. Und sie hatte gehofft, das mit der neuen Bluse auch das andere, die Schönheit und das Strahlen, zu ihr kommen würde. Aber so sehr sie sich auch bemüht, sie ist nicht die Influencerin, sie ist und bleibt Lisa. Lisa mit den Pickeln, mit den Haaren, die immer strubbelig aussahen, auch wenn sie sie stundenlang mit dem Glätteisen bearbeitet hatte. Wenn sie die Videos der Influencerin auf Instagram ansieht, dann wirkt alles so harmonisch, so toll, alles passte zusammen. Aber sie hockt weiter in ihrem Zimmer mit den Möbeln ihrer großen Schwester. „Die sind doch noch gut!“, sagte ihre Mutter immer, aber Lisa findet sie nicht gut. Manchmal aber, so wie jetzt, dann träumt sie. Sie träumt davon, dass sie glücklich und zufrieden ist, sich wohl fühlt. Und eigentlich steht mir die Bluse doch, findet sie. Und sie will sich sagen: „Lisa, du siehst toll aus!“ Aber dann hört sie wieder die Stimmen der anderen aus ihrer Klasse. „Pickellisa“, so rufen sie sie, und „fette Kuh“. Und sie schafft es wieder nicht, diese anderen Stimmen aus ihrem Kopf zu kriegen. Du wirst nie so sein, so toll, so schön, so gut.

Lisa könnte auch Phillip heißen und versuchen, sich Muskeln im Gym anzutrainieren. Und auch Phillip wird scheitern. Unsere Zeit ist sehr stark von diesen Influencern geprägt. Sie sind Vorbilder, die sich und ihre tolle Welt zeigen. Eine Welt, in der alles gut ist. Und so viele Kinder und Jugendliche möchten auch so sein, möchten Teil dieser tollen Welt sein. Aber es ist ein Weg, der in die Irre führt, der oft frustriert. Und es ist ein Weg, bei dem sich unsere Kinder und Jugendlichen, all die Lisas und Phillips und wie sie heißen mögen, enorm unter Druck setzen. Denn oft sind sie eben nicht so. Damit kämpfen sie einen Kampf gegen sich selbst, und oft verlieren sie den. Bleiben unscheinbar, dick, ausgeschlossen. Und ich denke, irgendwie wissen das die Jugendlichen auch. Doch all unsere guten Erwachsenenratschläge wie „Ach, du bist doch gut so, wie du bist!“, scheitern. Denn die Sehnsucht ist so groß. Die Sehnsucht, anerkannt zu werden, dem Ideal zu entsprechen, sportlich, attraktiv, beliebt zu sein. Im Fernsehen, in der Werbung, im Internet: Überall begegnen sie mir, diese tollen, schlanken, sportlichen jungen Menschen. Doch was ist mit denen, die nicht diesem Schönheitsideal, nicht dem Sportlichkeitsideal entsprechen? Viele versuchen dann doch, irgendwie ein bisschen davon zu erhaschen und kaufen sich eine Influencer-Bluse wie Lisa oder gehen wie Phillip ins Fitnessstudio. Doch das irgendwie ein bisschen ist eben nicht alles. Unsere Welt ist unbarmherzig geworden. Mobbing unter Schülern hat enorm zugenommen[1]. „Schön, dass du da bist!“, das hören ganz viele Jugendliche nicht. Sondern: „Du nicht! Du gehörst nicht dazu!“

Doch nicht nur Jugendliche stehen unter diesem Druck. Es ist etwa für Menschen in der Politik ganz schwer, einen Fehler zu machen. Dabei wissen wir doch: Jeder Mensch macht Fehler. Aber in der Politik umgeben sich die Männer und Frauen mit einem Lächeln und einer Arbeitsdevise, die ausstrahlt: „Ich schaffe alles!“ Doch wenn sie einmal eine Sache nicht schaffen, dann verschwinden sie. Sie treten zurück und ein neuer tritt an ihre Stelle. Dabei wäre es für mich viel wichtiger zu sehen: Wie geht dieser Mensch mit dem Fehler um? Schafft er es, gelingt es ihr, aus dem Scheitern heraus etwas zu lernen, einen neuen Weg einzuschlagen? Doch weil diese Menschen nach dem Scheitern oft ausgetauscht werden, erfahre ich das nie. Ich sehe nur einen neuen Politiker, der so lange weitermacht, bis auch er scheitert. So aber kann oft nichts Gutes, nichts Neues entstehen, und vor allem: Dann entfernen sich die Menschen in der Politik von den anderen. Zu denen gehöre ich auch, und ich mache nun einmal Fehler, ich scheitere auf meinem Weg. Dann aber entfernen die sich vermeintlich fehlerlosen Menschen in der Politik immer mehr von denen, die so fehlerbehaftet sind wie ich [2]. Es mag sein, manche Probleme im Gespräch zwischen Politikern, Politikerinnen und den Bürgern rühren daher.

Die Jugendlichen, viele Männer und Frauen in der Politik: Sie stehen unter einem enormen Druck. Sie müssen immer dem Ideal entsprechen, fehlerlos, makellos zu sein. Sie dürfen keine Fehler machen. Das aber ist unmenschlich und unbarmherzig. „Wie finde ich gnädige Menschen, Menschen, die es gut mit mir meinen?“, diese Frage stellen sich viele.

Martin Luther kennt den Druck, dem die Jugendlichen und manche Politiker ausgesetzt sind. Er selbst steht unter gehörigem Druck. Doch er sucht nicht nur Menschen, die es gut mit ihm meinen, die gnädig zu ihm sind, er sucht vor allem einen gnädigen Gott. Denn Gott, so erlebt er ihn in seiner Jugend, in seinem Studium, Gott ist ein grausamer, harter Gott. Gott verlangt, so denkt Luther, dass wir sein Wort und seine Gebote halten. Doch Luther spürt und erlebt es: Das schaffe ich nicht. Und er hört es als Seelsorger in vielen Gesprächen in seiner Gemeinde, von Menschen, die unter diesem harten Gott leiden. „Ich schaffe es nicht“, so ist Luthers Gefühl. „Ich schaffe es nicht, vor Gott zu bestehen.“ In der Sprache der Bibel heißt das: Luther schafft es nicht, vor Gott gerecht zu sein. Luther versucht es, sich gerecht vor Gott zu machen. Er betet, er fastet, er arbeitet mehr als alle anderen. Doch es will und will ihm nicht gelingen. Im Rückblick sagt er: „Irgendwann habe ich diese Gerechtigkeit Gottes gehasst!“ Ja, er hasste sogar Gott[3]. Doch die Sehnsucht war so groß und blieb in Luthers Herzen, dass er nicht aufgab. Er las in der Bibel, immer wieder. Und eines Tages verstand er: Gottes Gerechtigkeit ist nicht das, was er von uns Menschen fordert, es ist das, was er uns schenkt. Nicht wir sollen gerecht sein und dann zu Gott kommen. Nein, er macht uns gerecht, er macht uns richtig und gut, und dann können wir frei leben. Für Luther war das eine innere Revolution, eine völlige Umwälzung.

Das liest Luther auch im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom. Dieser Brief ist wichtig, weil Paulus in ihm seine ganze Erkenntnis von der frohen Botschaft Gottes den Christen in Rom erklärt. Im Römerbrief im 3. Kapitel steht auch der Predigttext für heute. Paulus beschreibt in den Versen vorher den Weg, durch das Gesetz, durch das eigene Tun und Handeln vor Gott gerecht zu werden, sich selbst gerecht zu machen. Er kommt zu dem Schluss: so geht es nicht. Doch dann schreibt er:

Aber jetzt ist Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden, und zwar unabhängig vom Gesetz.

Das bezeugen das Gesetz und die Propheten. Es ist der Glaube an Jesus Christus, der uns die Gerechtigkeit Gottes zugänglich macht. Der Weg zu ihr steht allen Glaubenden offen. Denn in dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied: Alle sind schuldig geworden und haben keinen Anteil mehr an der Herrlichkeit Gottes. Sie verdanken es also allein seiner Gnade, dass sie von Gott als gerecht angenommen werden. Er schenkt es ihnen aufgrund der Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Durch dessen Blut hat Gott ihn als Zeichen der endgültigen Versöhnung eingesetzt. Und durch den Glauben erhalten wir Anteil daran. So hat Gott seine Gerechtigkeit unter Beweis gestellt. Lange hat er die Verfehlungen ungestraft gelassen, die früher begangen wurden. Gott hat sie in Geduld ertragen. Doch jetzt, zu diesem besonderen Zeitpunkt, will er beweisen, dass er wirklich gerecht ist. Ja, er ist gerecht. Und er nimmt diejenigen als gerecht an, die aus dem Glauben an Jesus leben. Gibt es irgendeinen Grund, auf etwas stolz zu sein? Nein, das ist ausgeschlossen! Welches Gesetz schließt das aus? Etwa das Gesetz der Werke? Nein, sondern das Gesetz des Glaubens! Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch allein aufgrund des Glaubens gerecht ist – unabhängig davon, ob er das Gesetz befolgt. (Röm 3,21–28 Basisbibel)

Paulus beschreibt hier den Weg des Vertrauens. Er lädt alle Menschen ein, an Jesus Christus zu glauben. Vertrau dich und dein Leben Gott an. Denn Gott liebt dich. Er liebt dich, obwohl du Fehler machst und oft nicht so handelst, wie du es tun solltest. Er liebt dich auch, wenn du scheiterst. Der Weg des Vertrauens heißt: Gib dich ganz in Gottes Hände. Denn Gott ist dir doch schon ganz nah. Vergiss alles, was du an bösen und auch an guten Taten getan hast. Nichts davon wird dich von Gott abbringen, aber auch nichts näher an Gott heranbringen. Nur dein Vertrauen zählt. Du kannst Gott vertrauen, weil er dich liebt. Das kennen wir doch aus unserem Leben, liebe Schwestern und Brüder: Die Liebe ist der Weg, der uns anderen Menschen vertrauen lässt. Die Liebe Gottes ist der Weg, der uns leben lässt, trotz aller unserer Fehler, unserem Scheitern, obwohl wir nicht so sind, wie wir gerne sein wollen.

Das erkennt Luther, und er schreibt: „Als mir das klar wurde, da gingen mir die Tore des Paradieses auf.“ Nun erst versteht er, wie gut Gott es mit uns meint. Nun erst kann er die Geborgenheit spüren und in ihr leben, nach der er sich so lange gesehnt hat. Das ist die gute Nachricht, um die sich alles dreht. Das ist das Evangelium, das die Grundlage, der Kern unserer evangelischen Kirche und aller Kirchen: Gottes Liebe. Um sie dreht es sich immer, in jedem Gottesdienst, bei jeder Taufe, jeder Beerdigung, in jeder Konfirmandenstunde. Das feiern wir heute mit dem Reformationsfest.

Für mich ist dieses Fest weit mehr als eine Erinnerung an Martin Luther und den Thesenanschlag vor 500 Jahren. Es zeigt uns den Weg zum Leben. Es zeigt uns, wie wir auch heute mit dem Druck, mit allem, was die Welt von uns will und fordert, auch mit all unseren Unzulänglichkeiten zu leben. Gott liebt uns mit allem, was wir sind und haben, und eben auch mit allem, was wir nicht sind und haben. Denn Internet, Instagram, Tiktok und alle Errungenschaften unserer Zeit haben zwar unsere Kommunikation und unsere technischen Möglichkeiten verändert. Doch wir Menschen sind die gleichen geblieben, ob wir jetzt in Rom zur Zeit des Paulus, in der Reformationszeit oder heute leben. Tief in uns ist die Sehnsucht danach, anerkannt und gesehen zu werden, und zwar so wie wir sind. Gottes Liebe lässt uns leben.

Ich weiß, für manche Jugendlichen und Erwachsenen ist Gott zu einem Fremdwort aus einer Sprache geworden, die sie nicht oder nicht mehr sprechen. Ich weiß auch, wie grausam und unbarmherzig die Welt der Politik ist oder geworden ist. Doch gerade darum ist doch dieses Wort so wichtig: Gottes Liebe schenkt dir Leben! Wir sind die Kirche Jesu Christi. Wir sind die Gemeinschaft der Menschen, die auf Christus vertrauen. In ihm hat Gott sich mit uns versöhnt. Er selber ist in seinem Sohn ans Kreuz gegangen und hat sein Leben gegeben, damit wir frei leben können, getragen von seiner Liebe, geborgen und getröstet. Ich wünsche allen, die unter den Lasten des Lebens leiden, diesen Trost. Ich wünsche es allen Jugendlichen wie Lisa und Phillip, allen Erwachsenen, die sich mit den Anforderungen quälen, allen, die an ihrem Scheitern leiden, allen, die nach einem mutmachenden Wort für ihr Leben suchen. Nicht euer vermeintliches Ungenügen, nicht euer Scheitern, eure Niederlagen entscheiden über euch, sondern allein Gottes Liebe. Und das feiern wir heute.

Amen

Liedvorschläge:

EG 440 „All Morgen ist ganz frisch und neu“

EG 341 „Nun freut euch liebe Christen g`mein“ (Wochenlied) oder mit sehr schönem modernem Text „Mein Herz ist voll“ https://www.youtube.com/watch?v=FN9YjHr1ieU

EG 346 „Such, wer da will, ein ander Ziel“

EG 355 „Mir ist Erbarmung widerfahren

EG 362 „Ein feste Burg ist unser Gott“

Fürbittgebet

Lieber himmlischer Vater,

du weißt ja, wie oft wir uns in unserem Leben verrennen.

Wir wollen so toll, so grandios, so strahlend sein.

Wir wollen die anderen und sogar dich beeindrucken.

Du aber siehst in unser Herz und weißt,

wie sehr wir uns nach einem guten Wort, nach Liebe und Trost sehnen.

Sprich du zu uns.

Tröste uns, wenn wir an unserer eigenen Unzulänglichkeit verzweifeln,

wenn unsere Niederlagen, unser Schwachsein, das Dunkel uns erdrücken.

Lass uns spüren:

Deine Liebe trägt uns in allem,

durch unsere Erfolge und durch unser Scheitern hindurch zu dir.

Wir bitten dich besonders für unsere Kinder und Jugendlichen.

Mancher von ihnen steht unter so großem Druck, dass er zu zerbrechen droht.

Lass gute Menschen um sie sein.

Öffne ihr Herz für dich und deine Liebe.

Wir bitten dich für alle, die unter den Lasten des Lebens leiden.

Schenke ihnen Zeiten der Ruhe, für sich selber und für dich.

Wir bitten dich für alle, die dein Wort verkünden:

Gib ihnen Mut und Zuversicht und Barmherzigkeit.

Wir bitten dich für deine Kirche bei uns und auf der ganzen Welt:

Lass sie sich immer an deiner Liebe ausrichten.

Schenke ihr Vertrauen zu dir.

Wir bitten für die Christen und Christinen,

die ihren Glauben nicht frei leben können.

Beschütze sie.

Lass sie spüren, dass du bei ihnen bist.

Wir denken an alle, die krank sind, die unter Schmerzen leiden, die im Sterben liegen:

Sei du mit all deinen guten Engeln bei ihnen.

Lass sie, wenn es geht, genesen,

und wenn die Zeit ihres Sterbens kommt,

dann schenke ihnen einen sanften und ruhigen Tod.

Wir sehen uns an und sagen dir in der Stille, was unser Herz bewegt:

STILLE

Danke, lieber himmlischer Vater, dass du uns hörst.

Lass uns in allem, was kommt, auf dich und deine grenzenlose Liebe vertrauen.

Amen

Pastor Peter Schuchardt

Bredstedt

E-Mail: peter.schuchardt@kirche-nf.de

Peter Schuchardt, geb. 1966, Pastor der Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche), seit 1998 Pastor an der St. Nikolai Kirche in Bredstedt/Nordfriesland (75%), seit 2001 zusätzlich Klinikseelsorger an der DIAKO NF/Riddorf (25%).

[1] https://www.spiegel.de/panorama/bildung/cybermobbing-an-schulen-angst-alkohol-suizidgedanken-a-3ff326dd-7ae7-4e42-a9ed-682e410fcb4a

[2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/psychologie-scheitern-misserfolg-aldenhoff-interview-afd-lux.5VjrCamP3arSP5WPwdQgPM?reduced=true

[3] https://www.unifr.ch/orthodoxia/de/assets/public/Lehre/FS2024%20-%20%C3%96kumene/Rechtfertigung_Quellen.pdf