
Römer 3,21–28 (31)
„Amazing grace“ und „materialisierte Gnade“ | Reformationstag | 31.10.2024 | Röm 3,21–28 (31) | Michael Plathow |
Lied: EG 342, 1,6–8
Des Apostel Paulus Vermächtnis sind die gehörten Worte, die er an die Gemeinde in Rom schrieb. Vom Kern des reformatorischen Glaubens sprechen sie.
Als ich sie meditierte für die Predigt am Reformationstag 2024, kamen mir zwei Erinnerungen:
1.
Es war bei einem Geburtstagsbesuch: die verwitwete Frau war auch heute allein. Sie erzählte mir aus ihrem Leben; im Hintergrund spielte weiter das Radio. Vieles war anders gekommen auf ihrem Lebensweg. Worte wie „hätte“, „wäre“, „wenn…dann“ häuften sich. Unzufrieden, düster, haderte sie. Da klang plötzlich aus dem Radio das Lied „Amazing grace“ von John Newton. Wir horchten, schwiegen, lauschten. Dann sprachen wir über das Leben des Dichters: als Kapitän eines Sklavenschiffes widerfuhr ihm am 10.5.1748 der vielen Tod bringende Schiffbruch. Er, in der Not, schrie zu Gott. Er wurde gerettet. Zur Lebenswende und Führung Gottes wurde ihm dies. Theologie studierte er, wurde Geistlicher mit der Gabe eines Dichters. Zugleich war er Vorkämpfer gegen die Sklaverei.
Als ich nun den Text „Amazing grace“ zitierte:
„Unglaubliche Gnade, wie süß ist dein Klang,
die einen Sünder wie mich errettete.
Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden,
war blind, aber nun sehe ich.
Es war Gnade…“,
erhellte ich das Gesicht der Frau. „Das tut gut“, sagte sie nur mit einem Lächeln und dankte für den Besuch.
Und weiter erinnerte ich mich:
Vor einigen Jahren besuchte mich ein Pfarrerkollege; er war für das Kontaktstudium in Heidelberg, eine Aus- und Freizeit, freigestellt. Hochgemut, fast begeistert erzählte er von den teilgenommenen Seminaren und den auch nichttheologischen Vorlesungen, von der Zeit zum Lesen und zu Gesprächen mit anderen Studierenden über Gott und die Welt. „Materialisierte Gnade“ ist es, stellte er fest. Von diesem Satz inspiriert, schlugen wir nach bei M. Luther. Wir lasen, was der Reformator später über seine Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes aus Gnade allein durch den Glauben schrieb: „Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben. Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffnete Pforte in das Paradies selbst eingetreten war“ (WA 54, 135). Mein Kollege ergänzte persönlich hinzu: „In das Paradies ist wohl zu vollmundig. Aber als Geschenk erfahre ich das Kontaktstudium, als Gabe Gottes“
2.
Im Erinnern an diese Begegnungen horchte ich auf die Botschaft des Apostel Paulus und wandte mich der Predigt zu. Dabei fragte ich mich: Muß der vorgeschlagene Predigttext Röm 3,21–28, auch nach der Intention von Paulus, nicht ausgeweitet werden bis V. 31? So hörten wir ihn. Gerade im 25. Jahr der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zwischen der evangelischen, römisch-katholischen, methodistischen und anglikanischen Kirche sowie der baptistischen Gemeinschaft sind doch auch die jüdischen Gläubigen in Paulus Botschaft einbezogen. Denn auch wir Christen sind doch hineingenommen in die Verheißung des gnädigen Gottes an Abraham, dem Vater des Glaubens! Paulus schreibt: Alle, Juden und Christen, sind beschenkt von Gott mit dem, was nur er zu geben und zu tun vermag.
3.
Paulus verkündigt hier die Gerechtigkeit als unsere Rechtfertigung aus dem Geschenk der Gnade allein durch den Glauben – so das Evangelium als „Kraft Gottes“ (Röm 1, 16f). Paulus Predigt nimmt uns hinein in die Beziehungsgeschichte Gottes mit uns Menschen: in Gottes Gerechtigkeit schenkendes Recht der Gnade für die Welt, in Gottes neuschaffendes Recht der Liebe für uns Menschen. Den Quellgrund des Lebens der Glaubenden verkündigt er der Gemeinde in Rom.
Mögen die Sätze des Apostels etwas sperrig, nicht leicht verständlich klingen – schon der 2. Petrusbrief äußerte sich humorvoll zu Paulus Schreibstil (2 Petr 3,16) – die Sache, um die es hier geht, ist klar, wenn auch nicht selbstverständlich; sie ist widerständisch.
4.
Paulus nimmt darum zu unserer Hilfe den Zugang bei uns umtreibenden existentiellen Fragen: Wie finde ich Wertschätzung? Wo unbedingte Anerkennung? Bei wem letztgültige Annahme, bei all meinen Versagen und Schuldigbleiben? Es geht um das, was mich unbedingt angeht, was Sinn macht im Leben und im Sterben, wem ich letztes Vertrauen gebe. Für Paulus geht es um die Beziehung zu Gott und Gottes zu uns. Doch das erscheint dem normalen Realitätssinn und der geltenden Vernunft fremd und unwirklich. Darum knüpft Paulus zentral bei unseren im Alltäglichen geltenden Erfahrungen an: selbst alles machen zu müssen und machen zu wollen. Das Tun und Werken der Menschen ist es, mit dem wir uns und unser Leben rechtfertigen und uns anderen gerecht machen. Nicht wenige optimieren sich und ihr Tun, um ihren Wert zu steigern; man möchte imponieren und sich in einem guten Licht darstellen. Häufig sind Droge, Schönheitsoperation, Zahl der follower in sozialen Medien die Mittel. Die Wünsche und Bemühungen nach Rechtfertigung sind ungebrochen.
Dazu kommt im privaten und gesellschaftlichen Leben ein alles bestimmender Deal zwischen Interessen und Gütern: ich gebe, wie du gibst und du gibst, damit ich gebe, die ausgleichende Gerechtigkeit.
5.
Aus den Angeln hebt Paulus das, was uns realistisch erscheint. Über Kreuz liegt er mit den selbstverständlichen Lebenserfahrungen. Das Evangelium als Kraft Gottes ist es, das verkündigt die Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus, aus Gnade, allein durch den Glauben. Kennzeichen sind drei Wort: Gnade, Glaube, Erlösung.
Paulus bezeugt das Gesetz der Gnade, nicht das Gesetz der Werke: Immer schon sind wir beschenkt, wie durch unserer Geborenwerden, wo wir nichts dazutaten, so in unserm begrenzten Leben immer wieder, in kleineren und größeren Geschehnissen, die uns scheinbar zufielen. Der Volksmund sagt: Junge Menschen fragen, was ist Gnade, ältere: was ist nicht Gnade.
Gott ist es, der uns und unserer Welt gut ist. Gottes Liebe, ein „Backofen voller Liebe“, wie M. Luther im Bild sagt, gilt uns. Und wer könnte sagen, dass er oder sie dieser Liebe nicht bedarf? Unser Lebensgrund in und aus Gott wird offenbar mit der Gestalt Jesu Christi; in ihm zeigt sich Gottes Liebe und in ihm begegnet mir Gott als Liebender. Gnädig und barmherzig ist Gott; er schenkt Gnade – auch denen, die Gott vergessen und sich ihm und seinem guten Willen verschließen. Und durch Gottes Gerechtigkeit der Gnade und Liebe in Jesus Christus sind wir immer schon liebenswert und wertgeschätzt. Gottes Ja, seine Anerkennung ist uns zugesagt so, wie wir in Jesus Christus schon erkannt und anerkannt sind. Angenommen – vor Menschen unannehmbar, aber durch Christi Tat für uns angenommen – sind wir geliebt, weil von Gott in Jesus Christus geliebt, vor Gott angesehen, weil in Jesus Christus ersehen und gesehen. Das meint Paulus, wenn er vom Geschenk der Gnade Gottes für uns spricht, von der unverfügbaren Liebe Gottes als Lebenselixier für alles Leben und Zusammenleben. Ein anderes, ein neues Wirklichkeitsverständnis eröffnet das Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes aus Gnade.
6.
Wir erfahren das Geschenk der Gnade im Glauben und durch den Glauben; so verkündet Paulus weiter. Glaube, dieses grundlegende, Leben bestimmende Vertrauen auf den, der uns gut ist, wie er in Jesus Christus gezeigt hat, Glaube ist Leben und erschließt Leben. Glauben und Leben gehören zusammen. Die Beziehung zu Gott und Gottes zu uns erweist sich im Leben. Eine Lebensweise ist sie, manche sagen eine Haltung: als von Gott in Christus Geliebte, wird Liebe frei gelebt im Fürsein für die, die nicht wertgeschätzt, nicht anerkannt, nicht angenommen sind, für die Notleidenden und Verlierer im gnadenlos selbstrechtfertigenden Machen und Werken.
Glaube wird verantwortlich gelebt nach dem guten Willen Gottes zum Leben – gegen die bösen Kräfte, wodurch Menschen Leben zerstören und sich selbst Zukunft verbauen. Heute erleben wir – nicht als Technikbeschimpfung sei es gesagt –, dass maßloses Machen der Menschen gegen die Mitschöpfung werkt; Umweltkrise und Wetterkatastrophen sind die Folge. Und so werden, wie überhaupt bei jedem Schaden und Unglück, Schuldige gesucht und Sündenböcke gemacht im Zwang zur Verurteilung des anderen.
Paulus verkündet da: durch den Glauben allein, den in Liebe und Verantwortung gelebten Glauben, erfahren wir die rechtfertigende Gnade Gottes; und in Freude und Dank werden wir als Gesegnete Segen für andere. Selbstrechtfertigende Werke und dargebrachte Sündenböcke wirken vor Gott nichts. Dem Glaubenden ist verheißen die befreiende Bedeutung durch ein Schuldbekenntnis und die Zukunft eröffnende Kraft der Vergebung. Der Glaube lebt mit der Taufe aus der Bejahung dessen, was Gottes Liebe und Gnade in Jesus Christus für uns getan hat.
So schafft Vergeben neu Zukunft in zerrütteten Ehen, neu Vertrauen zwischen Kirchen etwa durch das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ (10.5.1945), neu Verständigung und Wertschätzung durch die Bitte um Vergebung etwa unseres Bundespräsidenten beim Gedenken an den „Warschauer Aufstand“ am 31.8.dieses Jahres.
7.
Gerechtigkeit Gottes aus Gnade durch den in Liebe und Verantwortung gelebten Glauben gründet und setzt sich durch in der „Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist“. Paulus kann auch von der Versöhnung in Jesus Christus schreiben (2 Kor 5,19–21), Versöhnung durch Gottes Gnade in Jesus Christus, die auch Versöhnung zwischen Menschen und Völkern einschließt.
Die Erlösung durch Gottes Gnade in Jesus Christus ist es, die Zukunft eröffnet und schafft, verheißt Paulus der Gemeinde. Denn die Erlösung in Christi Kreuz und Auferstehung schafft Befreiung von dem ehernen Gesetzt der Sünde und des Todes; sie macht uns frei von der „Angst der Welt“, eben vor dem, was möglicherweise kommt und uns Zukunft verschließend nicht mehr loslässt. Erlösung schenkt Zuversicht und Hoffnung: „vorletzte“ Hoffnungen für verantwortliches Tun in der Liebe zum Nächsten und zur Mitschöpfung, „letzte“ Hoffnung für das, was Gottes Gnade in Jesus Christus für uns und für diese Welt vollenden wird.
Ja, Gott schenkt sich in Jesus Christus; in ihm sind wir vor Gott liebenswert und wertgeschätzt durch den Glauben, der in der Liebe tätig und von freudiger Hoffnung getragen ist.
Das wird uns am Reformationstag 2024 mit Paulus Vermächtnis von der Gerechtigkeit Gottes aus Gnade verheißen und zugesagt. Durch das Lied „Amazing grace“ erlebte das irgendwie die von mir an ihrem Geburtstag besuchte Frau, in anderer Weise mein Pfarrerkollege, der sein Kontaktstudium als „materialisierte Gnade“ erfuhr, und noch anders gewiss ein jeder von uns – im Hören auf das Wort Gottes, das sich als Lebewort erweist.
Mir persönlich ist mit Paulus Vermächtnis wieder neu wichtig geworden diese frohe Botschaft von der Rechtfertigung in Jesus Christus aus Gnade allein durch den Glauben, der neu ins Leben führt an jedem geschenkten Tag und darüber hinaus.
Und die Gnade Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre uns an jedem neuen Tag, den Gott uns schenkt. Amen
Lied: EG 666,1–3
Michael Plathow, michael@plathow.de