
Römer 8, 14 – 17
Diese Welt – Gottes Kindergarten? | 14. Sonntag nach Trinitatis | 1. September 2024 | Predigttext: Röm 8, 14 – 17 | von Gert-Axel Reuß |
Liebe Gemeinde,
bis vor kurzem wohnte und arbeitete ich neben einem Kindergarten. Wenn – bei gutem Wetter – der Lärm der draußen spielenden Kinder zu mir herüberwehte, dann ging mir das Herz auf. Einem Kind beim konzentrierten Buddeln im Sand zuzusehen, das Juchzen von der Schaukel mit dem Ruf „mehr, mehr“, das Zusammenkommen beim Ballspiel – wer solches beobachten darf und mag, findet wie von selbst den Weg zurück in eine hoffentlich glückliche Kindheit.
Der Himmel als riesiger Spielplatz – mir ist klar, dass ein Apostel Paulus davon nicht geträumt hat, als er an die Gemeinde in Rom schrieb: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ (Röm 8, 14) Aber mir gingen Bilder vom Strandurlaub mit unseren Kindern nicht mehr aus dem Kopf, als ich diesen Satz las. Das Leben als Spiel und ein Gott, der uns als seine Kinder mütterlich im Blick hat und versorgt. (Ob sie dabei gemütlich im Strandkorb sitzt mit einem guten Buch, von dem sie gelegentlich aufschaut? Das wäre auf jeden Fall eine schöne Facette unserer Gottesbilder!)
Für viele Familien ist der Sommerurlaub zu Ende, der „Ernst des Lebens“ hat uns wieder. Und Paulus träumt ja nicht vom Himmel, sondern hat die Realitäten dieser Welt fest im Blick. Sein Brief holt uns zurück auf den Boden der Tatsachen – und das heißt heute: immer noch Krieg in der Ukraine, immer noch kein Abkommen zwischen der Hamas und Israel. In Deutschland sind wir bestürzt über das abrupte Ende eines Stadtfestes in Solingen am Freitag der vergangenen Woche, nachdem auf dem Fest drei Menschen willkürlich ermordet und weitere schwer verletzt worden waren.
Ich will das an dieser Stelle nicht weiter ausmalen, aber dass die Zeiten, in denen Jesus und Paulus lebten, keine „besseren“ waren, dürfte klar sein. Paulus ordnet das Leiden an den Gegebenheiten dieser Welt als ein „Mitleiden mit Christus“ (V. 17) ein. Wenn er vom „Geist der Knechtschaft“ (V. 15) spricht, dann dürften zumindest einige der Angesprochenen Sklavinnen und Sklaven gewesen sein. Die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8, 21) wird kontrastiert durch ein Leben in Unfreiheit, ausgeliefert der Willkür des Herrn und der Herrin (!).
Ihnen ruft der Apostel zu: Gott ist anders! Gott fordert keinen Kadavergehorsam, „dass ihr euch abermals fürchten müsstet, sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!“ (V. 15)
Gott ist anders. Und dies bedeutet nicht nur: Im Himmel ist es anders – wie auch immer wir uns die dortige „heile Welt“ vorstellen.
Stellt sie euch vor, die „heile Welt“, die wir Himmel nennen! Malt sie euch aus! Denn aus diesen Bildern lässt sich Kraft schöpfen für das Leben in dieser Welt.
Das ist die Botschaft des Paulus in ihrer ganzen Tiefe: Nicht nur der Himmel ist anders. Für uns Christinnen und Christen ist das ganze Leben ein anderes. Es mag sein, dass wir uns widersinnigen Anordnungen der Mächtigen beugen müssen. Es kann sein, dass wir die Gewalt nicht stoppen können – aber unsere Ohnmacht führt uns nicht in Angst und Resignation! Der Geist Gottes, der uns treibt, drängt auf die Überwindung von Leid und Tod. Was uns heute bedrückt, steht unter dem Vorzeichen der Vergangenheit – das morgen ist ein anderes, auch wenn wir auf dieses morgen warten müssen. Und dieses Warten ist kein passives Hinnehmen und Erdulden, sondern ein Glauben und Hoffen, das sich im Jetzt auswirken will und auswirken wird. Ach was – nicht auswirken wird, sondern auswirkt (!).
Die Kindschaft, die Gotteskindschaft, von der Paulus spricht, ist – anders als oben beschrieben – kein Rückfall in eine Zeit der Unmündigkeit und Verantwortungslosigkeit, sondern eng verbunden mit der Taufe. Mit der Taufe Jesu (!) und seiner Berufung, als er eine Stimme des Himmels hört: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ (Mk 1, 11)
Es gilt also, das Leben einer/eines Erwachsenen zu führen, den Rücken gerade zu machen, den aufrechten Gang einzuüben – mögen die Umstände auch widrig sein. (Und das sind sie nicht, wenn wir uns mit denen vergleichen, die vor 2000 Jahren in Rom und in Jerusalem gelebt haben). Erbe Gottes zu sein und Miterbe Christi (V. 17) – also Schwestern und Brüder des Gottessohns – bedeutet doch, sich an ihm, an Jesus und seinen Predigten ein Beispiel zu nehmen: Liebe zu üben und Mitgefühl, sich nicht zu beruhigen angesichts der Ungerechtigkeiten dieser Welt, nach anderen Maßstäben zu leben und zu handeln, als es andernorts üblich ist bzw. sein kann.
Auch wenn wir von einer Wirklichkeit, die von Gottes Geist durchdrungen ist, entfernt sein mögen – mit und durch Jesus und sein Lebensbeispiel ist eine andere Dimension in diese Welt gekommen. Auch wenn ich es kaum auszusprechen wage, weil es überheblich klingen könnte: Auch diese Welt ist eine andere geworden! Und wenn sie sich noch nicht überall zum Besseren verändert hat, so erscheint uns dies doch zumindest möglich. Diese Möglichkeit zu ergreifen, dazu will Paulus uns ermutigen und anspornen. Die Mitglieder der römischen Gemeinde damals – aber uns doch auch! Seine Worte haben an Notwendigkeit und an Kraft nichts eingebüßt im Wandel der Zeiten.
Wir sind Kinder Gottes – was können uns da die Herren dieser Welt anhaben? Ihre Macht ist endlich – und sie werden Geschichte werden, die keinen Bestand hat. Aber wir – wir können Teil einer Bewegung sein, deren Maßstäbe gültig sind und bleiben werden. Und sind es ja, Miterben Christi, Kinder Gottes!
Auch wenn dieses Bild – wie oben benannt – ein schräges ist: der Himmel als Kindergarten Gottes. Stellen wir uns – nur versuchsweise – diese Welt einmal vor als Kindergarten Gottes. Oder als Strandurlaub mit Gott im Liegestuhl (oder Strandkorb). Ja – das klingt zunächst ziemlich absurd. Und natürlich gibt es auch in den Kindergärten Konflikte, welche die Kinder nicht aus sich selbst heraus bewältigen sondern nur unter Anleitung.
Ohne den Ernst des Lebens verharmlosen zu wollen: Manchmal kommt mir der Gedanke, dass diese Welt ein ziemlicher Kindergarten ist. Ohne Aufsichtspersonal. Und diese Vorstellung hat etwas Beunruhigendes.
Aber das ist sie nicht! Diese Welt ist kein Kindergarten ohne Aufsichtspersonal, sondern es gibt sie: Frauen und Männer in der Rolle der Erzieherinnen und Kindergärtner. Auch wir können in diese Rolle gehen, Streit schlichten, Konflikte entschärfen, dafür eintreten, dass jede/jeder zu ihrem/seinen Recht kommt. Wenn wir dabei daran denken, dass wir auch Kinder sind bzw. sein dürfen und nicht nur Aufpasserin/Aufpasser, dann übernehmen wir uns nicht und füllen die uns zugedachte Aufgabe nicht allein aus eigener Kraft sondern getragen vom Geist Gottes aus.
Also, liebe Leute: Werdet erwachsen! Aber vergesst nicht: Wir sind Kinder Gottes!
Amen.
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Gert-Axel Reuß
Zur Schönen Aussicht 4
23909 Bäk
Mail: gert-axel.reuss@gmx.de
Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor im Ruhestand, bis Juli 2024 Domprobst zu Ratzeburg