Sacharja 8,20-23

· by predigten · in 10. So. n. Trinitatis, 38) Sacharja / Zechariah, Aktuelle (de), Altes Testament, Beitragende, Bibel, Deutsch, Jochen Riepe, Kapitel 08 / Chapter 08, Kasus, Predigten / Sermons

Ihr Jüdinnen und Juden, laßt uns nicht allein! | 10.So. n. Trinitatis | 4.8. 2024 | Sach 8,20-23 | Jochen Riepe |

I

Blick in die Zukunft: ‚zu der Zeit‘ werden die Heiden den letzten Zipfel des Mantels eines jüdischen Mannes ergreifen: Warte doch! Halte ein! ‚Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, daß Gott mit euch ist‘.

Heute ist Israelsonntag, der Tag, an dem wir Gott danken für die Treue zu seinem Volk, der Tag, an dem wir darüber nachdenken, was dies für uns Christen bedeutet – für uns, die Hinzugekommenen ‚in die Welt Abrahams und Davids‘, ‚in die Welt, aus der Maria kam‘ und – ‚der Messias selbst‘(H.J. Iwand).

II

‚Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen‘. So ein Sprecher der Bundesregierung. Die Kippa, ein kleiner Hut oder eine kleine Mütze, tragen Juden zum Zeichen der Ehrfurcht vor Gott. Die Kippa provoziert: In Zürich, Berlin, Paris und anderswo schlugen solchermaßen sich provoziert Fühlende auf fromme Männer ein oder stachen sie nieder.

Es ist bitter: Nach dem 7. Oktober des letzten Jahres, der blutigen, mörderischen Vernichtungsaktion der Hamas an 1200 jüdischen Menschen, nach dem ersten weltweiten Schock und schnell erklärter Solidarität ist die Stimmung umgeschlagen. Antisemitische, judenfeindliche Gewalttaten, ‚Israel-Haß‘ nehmen zu: ‚Ist es Zeit, wieder zu gehen? Und wenn ja: Wohin?‘ fragt ein Journalist (Ph. P. Engel), und der Schriftsteller Leon de Winter meint, daß das europäische Judentum in den nächsten Jahrzehnten verschwinden wird. Bestürzende Sätze: Das Herabreißen einer Kippa war nur der Anfang.

III

Blick in die Zukunft vor 2500 Jahren: Der Prophet Sacharja verkündet Gottes Wort in der Zeit des Wiederaufbaus Jerusalems nach dem Rückkehr der Verstreuten aus dem Exil. Die Stadt steckt voller Probleme, die Menschen sind traumatisiert, das Zusammenleben von Rückkehrern und Dagebliebenen ist spannungsvoll. Die Ruinen wollen abgetragen, Häuser wieder aufgebaut werden. Besonders aber hat Sacharja eins vor Augen: der Neuerrichtung des Tempels als einem kultischen, geselligen und einigenden Mittelpunkt der wiedererstehenden Stadt. Ein Ausleger nennt das prophetische Buch darum eine Art ‚Programm zum Tempelbau‘ (K. Seybold). Hatte Gott nicht einst verheißen: ‚Ich kehre wieder auf den Zion zurück und will zu Jerusalem wohnen…‘ (8,3) und mit dieser Zusage das Land ‚geheiligt‘(2, 16)?

Es ist eine Verheißung, eine sozusagen in die Zukunft vorlaufende kreative Phantasie, die der Prophet als ein trostvolles, ermutigendes, anspornendes Bild seinen Hörern vor Augen führt: Mögen uns lange die Völker feindselig gesonnen gewesen sein, es kommt die ‚Zeit‘ da ‚werden zehn Männer… der Heiden einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, daß Gott mit euch ist‘.

IV

Was braucht eine sich wiederfindende Gemeinschaft mehr als solche öffnenden, versöhnlichen Visionen? Das war ja eine Grundfrage nach dem Untergang der Königreiche Juda und Israel: Bleibt Gott uns treu? Werden wir Anerkennung finden – vor Gott und den Menschen? Gewiß nicht als völlig eigenständige staatliche Größe, aber doch so, daß unsere Besonderheit, unser Existenzrecht: ‚Boden, Luft und Gebot‘ (F. Kafka), im persischen Großreich eine gewisse Autonomie erfahren: ‚Siehe, ein abgesondert Volk, das sich nicht zu den Heiden rechnet‘ (Num 23,9). Der Tempel sollte gleichsam das Haus, das Dach der neuen Existenz sein, Gottes Wohnort, in dem sein Volk zu Gast sein darf. Israel würde nicht der Außenseiter bleiben, sondern die Völker würden kommen, um von ihm, seiner Berufung, seiner Frömmigkeit, seiner Theologie zu lernen.

Ein gewagtes, quer zur Wirklichkeit angelegtes Bild: Ja, die Heiden werden sie achten und bewundern, und schon die Berührung eines Zipfels des Gewandes eines Juden würde reichen, sozusagen das Kleinste, um auf diese Weise Inspiration, Wegweisung zu empfangen. Interkulturelles Lernen. Völker wollen in der Regel dominieren, eingemeinden, majorisieren oder eben besetzen, beherrschen und schlucken. Die Gäste in Jerusalem wollen von seinem Volk zu Gott geführt sein, dem Gott Jahwe und seinen Weisungen, und der herrscht nicht ‚durch Heer oder Kraft‘, sondern durch seinen ‚Geist‘(4,6).

V

Existenzrecht. Ein Schutzraum. In den Zukunftsblick des Propheten mischt sich wieder – unsere Gegenwart ein. Das doch immer wieder beschworene feste Band zwischen Deutschen und Juden, die besondere Verantwortung unseres Landes für Israel, scheint porös zu werden. Bestand es je? Der Historiker Wolfssohn bezweifelt das. ‚Jetzt geht es den Juden an den Kragen‘. Sie seien immer nur erwünscht gewesen, ‚wenn sie für irgendetwas gebraucht würden‘. Nicht echte, sondern lediglich ‚funktionale Toleranz‘ würde ihnen entgegengebracht. ‚Rücksicht auf Minderheiten, Empathie… all diese schönen Eigenschaften gelten nicht für Juden‘. ‚Ist es wieder Zeit, zu gehen‘?

Vielleicht geht diese Frage zu weit, was ich aber bei mir selbst und anderen Christen feststelle: Wir suchen oft ein Idealbild Israels. Wir achten die hebräische Bibel als ‚Buch Jesu und der Jünger‘, wir sprechen von der bleibenden Erwählung des Volkes, wir entwerfen Theorien über Gottes Wege mit den ‚Zwillingen Rebekkas‘ ( A. F. Segal). Aber es fällt uns schwer, Geschichte und Realität dieses Volkes und ihres Staates als wirklich letzten und einzigen Schutzraum zu akzeptieren und ihn vorbehaltlos als solchen anzuerkennen.

Empathie: Wie ist es, auf einem winzigen Flecken im Nahen Osten an fünf Fronten zugleich zu kämpfen? Ständig mit Fliegeralarm und Raketenbeschuß leben zu müssen? Wie ist es, in der UN ‚einsam‘ (S. Grigat) zu sein und eine Versammlung ‚aller Völker gegen Jerusalem‘(12,3) zu erleben? ‚Ein rostiger Dolch im Herzen der islamischen Geographie‘ sei Israel, sagt der Chef der deutschen Ditib-Moscheen.

VI

Der prophetische Blick in die Zukunft geht weiter. Die ‚Völkerwallfahrt‘ (Jes 2,2-4) zum Zion, die Gäste von außen werden ja nur kommen, wenn es innen Wege zu einer den Geboten Gottes entsprechenden Gemeinschaft gibt. Wenn Sacharja ermutigen will, eine verfallene Stadt wieder aufzubauen, neu das Zusammenleben zu lernen, dann muß er konkrete Vorschläge machen, dann reicht es nicht, einen teuren Tempel in der Mitte zu errichten in der Hoffnung, Gott würde seinen Wohnort dort nehmen.

Sacharja ist darum in seinen Wiederaufbauprojekten besonders die Wiederbelebung der Anteilnahme der Bevölkerung unter – und füreinander wichtig. Ein ‚fleischernes Herz‘(Ez 36,26 ). Exilierte, Versprengte, Rückkehrer waren nicht in Watte gepackt. Lebenshärte. Aber kein Volk, kein Staat kann bestehen, wenn es nicht in allen Unterschieden von Herkunft, Tradition und Glaube ein einigendes Band der Solidarität gibt. Krisen entfremden die Menschen voneinander, Krisen können aber auch Hilfsbereitschaft und Anteilnahme erwecken und somit neuen Lebenssinn stiften.

Richtet recht, und ein jeder erweise seinem Bruder‘ – und seiner Schwester! – ‚Güte und Barmherzigkeit‘. Das ‚innere Wohlergehen‘ (H. Delkurt), soziale Sicherheit für ‚Witwen, Waisen, Fremdlinge und Arme‘(7,10) gehört genauso zum Identitätskern eines Volkes wie eine militärische, äußere Sicherheit und Anerkennung. Der Prophet ist kritisch: Gerade in dieser Hinsicht hat ja das ‚alte Reich‘ versagt und dem heutigen in sich sehr unterschiedlichen, linken und rechten, rechtgläubigen und liberalen Israel ist ja dies besonders aufgetragen: Dass aus den – bei den einen lebendigen und bei anderen halb – oder ganz vergessenen – biblischen Erinnerungen und Verpflichtungen, aus Klagen und Liedern demokratische Bürgerrechte erwuchsen, die allen im Lande gelten sollen (Lev 24,22) – in ‚Einigkeit und Recht und Freiheit‘, nicht aber in dem autoritären Ruf: ‚Schließt die Reihen‘.

VII

den Zipfel des Gewandes eines jüdischen Menschen zu ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen…‘ Mit Israel als Volk, als Staat zu ‚gehen‘, fällt so manchem schwer. Ich möchte euch dennoch dazu ermutigen. Den Saum eines Gewandes oder die Fransen und Knoten eines Gebetsmantels zu ergreifen, das kann man ja verschieden tun… und wer mitgeht, wird auch Fragen und Zweifel haben. Der Prophet erwartet ja von den zum Zion strömenden Völkern keine Unterwerfung. Und der Geist seines Gottes schon gar nicht. Im Ergreifen des ‚Zipfels des Mantels‘, in dieser Berührung des jüdischen Mannes, will er sozusagen in einen ersten vorsichtigen Kontakt mit Gott und seinem Willen führen.

Noch einmal springt uns die Gegenwart an. Wie kann es nach dem Massaker am 7. Oktober überhaupt zu einer erträglichen Koexistenz zwischen Israel und seinen Nachbarn kommen? Und wie kann eine Gegenwehr Israels gegen die Hamas aussehen? Wie kann man mit denen sprechen, die einen vernichten wollen? Wir werden konfrontiert mit den Folgen für die Zivilbevölkerung in Gaza. Diese Fragen treiben viele um. Wer unter Dauerdruck steht, wer sich wehren, abwehren muß, macht Fehler. Wir sollten aber auch auf das Urteil der Juristen hören, daß Israel in seinem Kampf gegen den Terror der Hamas geradezu ‚vorbildlich‘ (W. Bock) das Völkerrecht achte.

VIII

Manche schlugen vor, als Zeichen der Verbundenheit mit jüdischen Bürgern eine Kippa zu tragen. Auch zu einem jährlichen ‚Tag der Solidarität mit den Juden und Israel‘(L. Sucharewicz) wird aufgerufen. Ich halte mich an die Verheißung des Propheten: Gott wird seinen Geist geben und mich ermutigen, ‚den Zipfel des Gewandes‘ eines jüdischen Mannes oder einer Frau zu ergreifen: ‚ Warte doch! Geh nicht fort. Laß uns nicht allein. Singe mit mir einen Psalm. Erzähle mir von Abraham, Isaak und Jakob… Weise mir den Weg zu Gott, daß wir um ‚Boden, Luft und Gebot‘ für unser Leben bitten können‘.

(Gebet nach der Predigt:) Gott, laß regnen deinen Geist. Wir bitten für dein Volk: Daß es wehrhaft bleibt und zugleich Verständigung sucht. Wir bitten für die, die immer noch in Geiselhaft sitzen, daß sie endlich frei kommen. Wir bitten für deine Kirche: Daß wir an Israels Seite bleiben und uns die Mühe machen, seine Situation zu verstehen. Wir bitten für die jüdischen Mitbürger unter uns: Laß sie nicht an unserem Land verzweifeln. Wir bitten für einen jeden: Bewahre ihn vor schnellen Urteilen. Laß ihn ‚den Zipfel des Mantels‘ ergreifen, in Bildung, Gespräch und Aktion mitgehen mit denen, die uns zu dir führen.

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Liedvorschläge: eg 271 Wie herrlich  gibst du, Herr, dich zu erkennen  /  eg 298 Wenn der Herr einst die Gefangenen  / eg 295 Wohl denen, die da wandeln

Lit./ Medien: M. Wolffsohn, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/wolffsohn-jetzt-geht-es-den-juden-an-den-kragen/ Leon de Winter https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/ich-bin-ein-pessimistischer-realist// K. Seybold, Bilder zum Tempelbau. Die Visionen des Propheten Sacharja, SBS 1974 / H. Delkurt, Sacharjas Nachgesichte, 2011, S. 325 /   Bundestheologie und moderner Rechtsstaat (D. Novak): https://www.reformiert-info.de/Zionismus_und_zeitgenoessische_Bundestheologie-1832-0-56-7.html / W. Bock, Völkerrechtliche Grundfragen des israelisch- palästinensischen Konflikts https://www.youtube.com/watch?v=tQK_Sho2VT8 / M. Herdegen: https://www.welt.de/politik/ausland/article249085984/Israels-Vorgehen-im-Gaza-Streifen-verhaeltnismaessig-und-vom-Voelkerrecht-gedeckt.html


Jochen Riepe