Lukas 16,19–31

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1. Sonntag nach Trinitatis | 22. Juni 2003 | Lk 16,19–31 | Erik Høegh-Andersen |

Die Zeit der hellen Nächte. Die Zeit der Träume. Wenn man
die dänischen Sommerlieder singt, liegt immer etwas Traumhaftes über
der dänischen Sommernacht. Als habe die Natur den Pfingstprediger
Petrus beim Wort genommen. Der Apostel Petrus sagt in seinem Bericht über
das Pfingstwunder: Wenn der Geist über uns kommt, dann werden die
Jungen Gesichte sehen und die Alten Träume haben. Eben dies geschieht
nach Grundtvig in der hellen Sommernacht:

Die kurze Sommernacht durchschallen
des Friedenswaldes Nachtigallen,
daß alles, was dem Herrn gehört,
darf schlummern still und ungestört,
darf träumen süß vom
Paradeis
und wachen auf zu Jesu Preis.

Wie schön, an einem Sommermorgen aufzuwachen, mit Träumen
in uns, die unseren Sinn öffnen, und mit einer ganzen Welt um uns
mit Farben und Stimmen und Leben, an dem wir teilhaben und das wir wahrnehmen
und sehen. Herrlich, schlafen zu können und dann ausgeruht aufzuwachen
mit neuen Visionen und Kräften, die zum Leben erwachen.

Aber es ist ja keineswegs sicher, daß wir so erwachen. Es geschieht,
daß uns unangenehme Träume bedrücken und einen dunklen
Schatten über unser Leben werden. Es geschieht, daß die Nacht
in uns sitzt, nicht wie süße Träume, sondern wie ein
bedrückender Alptraum, von dem wir uns nicht befreien können.
Wir wollen es am liebsten vergessen, aber wir können es nicht aus
unserem Körper kriegen, aus unserem Sinn.

Man kann sehr wohl das Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus als einen
solchen alptraumhaften, äußerst unangenehmen Traum auffassen,
den der reiche Mann einmal hatte. Im Traum sah er den Bettler, der täglich
vor seiner Tür lag und die Hand austreckte, ohne daß er reagierte.
Selbstverständlich hatte er den Bettler bemerkt, wenn er an ihm
vorbeiging, aber er hatte ihn dennoch nicht als einen Menschen angesehen,
der ihn etwas anging. Er hatte ihn so gesehen, wie er die Straße
mit all dem Unrat gesehen hatte, der herumlag, und so wie er die Hunde
gesehen hatte, die überall waren und die Wunden des Bettlers leckten.
Aber einen Menschen, der ihn etwas anging, hatte er nicht gesehen.

Ja, er hatte ja vielleicht gedacht, daß es furchtbar war, tragisch,
daß ein Mensch nur dasaß und verfiel. Aber was sollte er
tun? Der Mann, Lazarus hieß er, war ja nur einer unter vielen Armen.
Und der reiche Mann hatte sein Leben, an das er zu denken hatte, so wie
der Bettler das seine hatte. Er hatte ein paar Mal seine Diener veranlaßt,
den Bettler zu entfernen, aber am nächsten Tag war er wieder da.
Der reiche Mann ging also an ihm vorbei, er sah an ihm vorbei, er wollte
auch nicht sein Leben stören lassen von einem armen Kerl wie ihm.
Wenn er damit anfing, hier zu helfen, waren ja keine Grenzen mehr für
das, wofür er seine Zeit verwenden konnte und was er sich in seinem
Leben vornehmen sollte.

Es geschieht, daß uns plötzlich deutlich wird, wie die Dinge
zusammenhängen. Es geschieht, daß eine Klarsicht bei uns einschlägt,
und wir wissen sofort, wie blind und töricht wir gewesen sind. Es
geschieht, daß wir auf einem Mal wissen, daß wir versagt
haben und daß wir das nicht wieder gut machen können.

Es kann sein, daß wir in derselben Weise wie der reiche Mann
Tag für Tag an einem Menschen vorbeigegangen sind, als sähen
wir ihn nicht. Und eines Tages ist er nicht mehr. Vielleicht war es nicht
direkt unsere Aufgabe zu sehen und zu helfen. Aber es war offenbar auch
nicht die Aufgabe anderer. Und wir wissen, daß wir mit unserer
Unaufmerksamkeit und unserem Wegsehen dazu beigetragen haben, eine Mauer
von Gleichgültigkeit und Kälte zwischen dem einsamen Menschen
und uns aufzubauen.

Oder es kann ein Mensch sein, mit dem wir wirklich viel zu tun hatten.
Aber wir hielten die Verbindung nicht fest, wir riefen vielleicht einmal
an, aber dann nicht mehr, weil es zu beschwerlich war, und es war in
der Situation vielleicht auch nicht weiter ergiebig. Es vergingen also
Monate und es vergingen Jahre, wo es mit der Zeit immer mehr unnatürlich
und peinlich für uns wurde, den Kontakt aufzunehmen, weil wir es
längst hätten tun sollen. Und eines Tages erhalten wir die
Nachricht, daß unser Bekannter oder Freund unter die Räder
gekommen ist. Keiner rief an. Niemand kam. Niemand fühlte wirklich,
daß ihn das etwas anging. Solche Geschichten kennen die meisten
von uns in irgendeiner Weise.

Und dann sehen wir vielleicht in einer unbarmherzig klaren Sicht, wie
unser Leben geworden ist. Wie wir uns selbst wahrnehmen, Arbeit, Freizeit,
vielleicht Familie und Freunde. Aber im Übrigen sind wir umgeben
von einer Wolke der Gleichgültigkeit. Und vielleicht verstehen wir:
Wenn unser Mitfühlen und Mitleben im Leben anderer nicht da ist,
dann sind wir in Wirklichkeit dabei, auch uns selbst zu isolieren. Dann
ist das letzten Endes auch niemand mehr da, der von uns etwas will, der
in unserem Leben mitlebt, der mit uns fühlt, wir haben uns vielmehr
in einer Welt eingerichtet, wo wir nur aneinander vorbeigehen, ohne einzuhalten,
ohne uns hineinziehen zu lassen, ohne zu sehen.

Für den reichen Mann zeigte sich die Klarsicht in einem alptraumhaften
Traum. Er sah nicht nur den bittenden Blick des Lazarus, während
er selbst unterwegs war zu all dem, was sein Leben erfüllte, endlose
Empfänge und üppige Feste, prächtige Ereignisse. Nein,
er sah in einer Summe, wie sein Leben gewesen war, egoistisch, selbstgefällig,
er hatte sich in der Bewunderung der anderen gebadet und war selbst eins
geworden mit der Pracht des Reichtums, aber das war ein Leben ohne das,
wovon wir Menschen leben, ohne Liebe, ohne aufrichtige Nähe, ohne
Mitgefühl. Und – aus der Sicht der Ewigkeit – was war das alles
eigentlich wert? Er sah sich in einer Vision selbst im Reich der Toten
als der Arme, als der Durstende, als der, der nichts hatte und an dem
alle die anderen blind und teilnahmslos vorbeigingen. Er wußte,
daß nichts mehr zu tun war. Er wußte, daß es zu spät
war. Zwischen ihm und Lazarus war nun ein tiefer Abgrund, und Lazarus
saß auf der anderen Seite in Abrahams Schoß. Lazarus ruhte
nun in der Liebe, die letztlich das einzige ist, was zählt in unserem
Leben.

Und die Kluft zwischen ihnen, das war dem reichen Mann klar, hatte
er selbst mit gegraben. Für den Zynismus, die Feigheit und die Gleichgültigkeit
eines jeden Tages war die Kluft tiefer geworden. Und nun war sie nicht
mehr zu überwinden. Lazarus saß an der Quelle, von der wir
leben sollen, aber nicht einmal ein Tropfen auf dem Finger konnte der
dem durstenden reichen Mann bringen.

So einen Alptraum möchten wir am liebsten von uns abschütteln.
Wir möchten am liebsten sagen können: das war nur ein Traum.
Und das ist es ja auch, ein höchst unangenehmer Traum. Aber deshalb
kann in ihm dennoch Wahrheit sein. Eine Wahrheit, die wir eben nicht
vergessen können, sondern die nicht aufhört, uns zu stören.

Und der reiche Mann hatte also im Traum die Wahrheit gesehen über
seine eigene kurzsichtige, egoistische Weise zu leben. Er hatte gesehen,
wie er sich in einer Hölle eingerichtet hatte, in einem Todesreich,
und nun gab es keinen Weg zurück zur Liebe, zum Land der Lebenden.

Aber dann ist da ein merkwürdiger Zug im Gleichnis oder Traum,
den wir nicht übersehen dürfen. Es geschieht nämlich dies,
daß der reiche Mann im letzten Augenblick faktisch von Mitgefühl
ergriffen wird. Mit ihm selbst war es zu spät, das wußte er.
Aber was mit seinen fünf Brüdern? Die waren in vieler Hinsicht
wie er selbst. Sie könnten sich vielleicht noch besinnen. Jedenfalls
bittet der reiche Mann im Traum Abraham, Lazarus zu seinen Brüdern
zu schicken und sie zu warnen, daß sie nicht genauso kurzsichtig
und zynisch oder eigensüchtig wie er selbst würden.

Aber Abraham wollte ihm nicht helfen: „Sie haben Moses und die
Propheten“, sagt er, „die können sie hören“.
Aber der reiche Mann weiß, daß das nicht hilft. Die fünf
Brüder haben die alten Propheten so oft gehört, Moses, Jesaja,
Jeremia. Aber umsonst. Nur wenn einer zu ihnen kommt von den Toten, werden
sie sich bekehren lassen, sagt er. Und Abraham antwortet schließlich,
wenn das nicht geholfen hat und wenn sie im Übrigen nicht haben
lernen können, worum es im Leben geht, dann nützt es auch nichts,
wenn man einen von den Toten schickt.

Und hier kann man sich vorstellen, daß der reiche Mann erwachte.
Er hatte eine furchtbare Vision. Ein Alptraum, der seinen Stachel in
ihn gebohrt hat, o daß er sich nicht abschütteln läßt.
Das öffnet bestimmt nicht den Sinn, so wie dies die süßen
Träume tun. Im Gegenteil: Das lähmt uns. Das sperrt uns ein
in das Todesreich, das wir mit geschaffen haben. Das erzählt uns
mit gnadenloser Konsequenz: Wir ernten so, wie wir gesät haben.

Aber die Frage ist nun: Ist das wirklich Christentum? Mag sein, daß in
einer solchen Vision Wahrheit enthalten ist. Aber ist es dies, was Jesus
uns sagen will? Ist dies das Evangelium?

Hierauf muß man klar antworten: Nein, das ist nicht das Evangelium.
Das ist nicht Christentum. Isoliert betrachtet ist das Gleichnis vom
reichen Mann und Lazarus eine unchristliche Geschichte. Es ist vermutlich
einer Wandergeschichte, die die jüdischen Pharisäer schon gekannt
haben.

Dennoch hat man sie Jesus in den Mund gelegt. Ob er sie selbst gebraucht
hat, und wie das geschehen ist, kann man nicht wissen. Aber wenn wir
sie hören, müssen wir unter allen Umständen mit bedenken,
daß Jesus selbst der ist, der uns die Geschichte erzählt.
Er ist der, der von den Toten auferstanden ist und uns eine Botschaft
bringt, die wir nicht überhören dürfen. Er ist der, der
weiß, daß wir unverbesserlich sind wie der reiche Mann und
seine Brüder, zugleich erzählt er von einer Liebe, die uns
aushält und die keine Mauer und kein Abgrund zurückhalten kann.

Ja, die Geschichte von Jesus, wie wir sie aus den Evangelien kennen,
das ist die Geschichte von einer Liebe, die alle Abstände überwindet,
die wir kennen und sehen und mit schaffen in unserem Leben. Jesus ist
der, der an Gottes statt seinen reichtum fortgibt, um zum Armen zu gehen
und seine Wunden zu heilen und seinen Hunger und seinen Durst zu stillen.
Und Jesus ist der, der keinen Menschen, reich oder arm, in der lieblosen
Welt bleiben läßt, in der er sich befindet.

Wir hören also das Gleichnis von dem reichen Mann und Lazarus
im Hinblick auf die Abgründe, die wir selbst mit geschaffen haben
und die wir nun selbst nicht überbrücken können. Aber
zugleich weckt der Erzähler, also Jesus, einen Traum in uns von
einer Liebe, die über alle die Kluften reicht, die wir sehen. Ja,
von den Toten zurückgekehrt, verstehen wir, daß hier in Christus
eine Liebe ist, die auch den Abgrund überbrücken kann, den
der Tod darstellt.

Das ist Christentum. Das ist Evangelium. Daß es eine himmlische
Liebe gibt, die nichts wissen will von einem „zu spät“,
die uns erreicht, auch wenn wir wie der reiche Mann in den Qualen der
Hölle sind. Es gibt eine Liebe, die uns stets fordert, unseren Glauben,
und wenn Glaube und Liebe sich begegnen, dann ist der Abgrund überbrückt
mit einer Brücke, die aus dem Reich der Toten in das Land der Lebenden
führt.

Deshalb sollen wir nicht zugrunde gehen in der Furcht, die der Alptraum
der Nacht oder die unangenehme Klarsicht in uns wecken. Wir sollen vielmehr
schlafen und morgens aufstehen im Vertrauen, daß dort, wo die Liebe
Gottes ist, grundlegend nichts zu fürchten ist. Wir hören darüber
im ersten Johannesbrief: „Gott ist Liebe“, steht hier, „und
wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“. Und
weiter: „Darin ist die Liebe völlig bei uns, daß wir
Zuversicht haben am Tage des Gerichts … Furcht ist nicht in der Liebe,
… denn die Furcht muß vor Strafe zittern … aber die vollkommene
Liebe treibt die Furcht aus“.

Das Evangelium pflanzt in uns einen lebendigen und wirksamen Traum
von der Liebe Gottes, die uns niemals nur dort bleiben läßt,
wo wir sind. Und wenn der Traum in uns lebt, dann ist da eine neue Welt,
die sich öffnet, ein Gegengift, so daß wir nicht gelähmt
werden durch die gnadenlose Klarsicht des Alptraums und von der Leere,
die zu Furcht wird.

Dann wissen wir, daß die Liebe uns immer einholen kann, wir wissen,
daß Gott uns nicht aufgibt und daß es immer Möglichkeiten
geben wird, die wir nicht gesehen haben. Es wird immer, wenn wir uns
bewegen und mitgehen wollen, eine Brücke vor uns geben, die zum
anderen Menschen führt, zum Land der Lebenden.

Mit dem Traum in uns sollen wir „träumen süß vom
Paradeis und wachen auf zu Jesu Preis“, und ansonsten mit offenen
Augen, mit allem, was wir in uns haben, hier gegenwärtig sein, wo
wir sind, und bei denen, die uns auf unserem Weg begegnen. Amen


Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
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Tel. ++ 45 – 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk