Sprüche 8,22-36

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Eine Ode an die Frau Weisheit | Jubilate | 11.05.2025 | Sprüche 8,22-36 | Sarah Bach |

Zum zeitlichen Kontext: am 11. Mai 2025 wird in der Schweiz (und anderen Ländern) Muttertag gefeiert.

Meine Mutter ist eine weise Frau.

Damit meine ich nicht, dass sie den höchsten Grad der akademischen Bildung erreicht hat oder alles weiss (sie ist ja schliesslich nicht Google und auch nicht ChatGPT).

Ich meine damit auch nicht, dass sie perfekt ist in allem, was sie tut und für richtig oder falsch hält.

Nein, ich meine damit, dass sie eine tiefe Lebensweisheit hat, die sie sich im Laufe ihres vielfältigen Lebens zugelegt hat.

Sie hat einen klaren Blick auf diese Welt und die Strukturen, die diese Welt beherrschen.

Darauf, was Menschen benötigen und was Gerechtigkeit ist.

Wenn meine Schwester und ich als Kinder etwas nicht finden konnten, obwohl wir lange danach suchten, brauchte sie bloss wenige Sekunden und fand das Gesuchte in unserem Chaos.

Meine Mutter beherrscht die Kunst, zu wissen, ob man gerade eine Umarmung oder einen Ratschlag braucht.

Meine Mutter sorgt sich um alle Menschen, weiss, wer gerade welche Nöte durchmacht und tut das in ihrer Macht stehenden, um diese Not zu lindern.

Meine Mutter weiss, was in ihrer Macht steht.

Es war für mich daher nicht überraschend, dass die Weisheit in der Bibel als Frau charakterisiert wird. Und ich denke, dass sich vielleicht gerade besonders in der aktuellen Zeit mit all ihren grossen Herausforderungen, im Angesicht unserer individuellen und kollektiven Macht und im Angesicht unserer Begrenzungen, ein Blick auf den israelischen Weisheitsbegriff lohnt. Es lohnt sich, mit der «Frau Weisheit», wie sie im Sprüchebuch genannt wird, ins Gespräch zu kommen!

Es ist wichtig zu wissen, dass es beim hebräischen Weisheitsbegriff um mehr geht als nur um gute Ratschläge oder die Erlangung einer Fertigkeit auf einem bestimmten Gebiet. Der Begriff Weisheit kann nicht mit Bildung oder Wissen gleichgesetzt werden, sondern ist in wesentlicher Weise mit einer Alltagserfahrung verbunden. Es geht um die Kunst der Lebensführung, d.h. wie man sein Leben weise gestalten kann.

Ganz zu Beginn des Sprüchebuches (Sprüche 1, 20-33) wird die Frau Weisheit vorgestellt, die auf öffentlichen Plätzen zu allen Menschen spricht und sie unterweist. Dies tut sie nicht nur im ersten Weisheitsgedicht, sondern bei all ihren Auftritten im Sprüchebuch. Sie spricht in der Stadt, der Ort, an dem sich Weisheit bewähren muss. Diese Erwähnung von solch öffentlichen Plätzen erinnert an Propheten und ihre Rufe zur Umkehr. Und auch beim Rufen der Frau Weisheit kann, wie auch bei den Propheten, eine enge Verbindung von Gerechtigkeit und Weisheit gesehen werden. Denn im Suchen und Erkennen der Zusammenhänge der Welt wird in der Weisheit nach dem ethischen Handeln des Einzelnen und der Gesellschaft gefragt. Dazu schreibt die alttestamentliche Theologin Silvia Schroer: „Die Weisheit des Ersten Testaments ist […] von der Idee einer umfassenden gerechten Ordnung und dem Tun der Gerechtigkeit nicht zu trennen.“[1] Weisheit und Gerechtigkeit werden im Sprüchebuch also als eng verwobene Begriffe angesehen (vgl. Spr 10,31). Eine weise Person hat, neben verschiedenen Fertigkeiten und Kenntnissen, auch ein Streben nach Gerechtigkeit inne. Die Weisheit ist nötig, um Gerechtigkeit zu erkennen und zu tun.

Lasst uns also nun auf die Frau Weisheit hören und was sie, inmitten des Getümmels der Welt, zu sagen hat:

„Der HERR hat mich geschaffen am Anfang seines Wegs, vor seinen anderen Werken, vor aller Zeit.

In fernster Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, in den Urzeiten der Erde.

Als es noch keine Fluten gab, wurde ich geboren, als es noch keine wasserreichen Quellen gab.

Bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren,

als er die Erde noch nicht geschaffen hatte und die Fluren und die ersten Schollen des Erdkreises.

Als er den Himmel befestigte, war ich dabei, als er den Horizont festsetzte über der Flut,

als er die Wolken droben befestigte, als die Quellen der Flut mächtig waren,

als er dem Meer seine Grenze setzte, und die Wasser seinen Befehl nicht übertraten, als er die Grundfesten der Erde festsetzte,

da stand ich als Werkmeisterin ihm zur Seite und war seine Freude Tag für Tag, spielte vor ihm allezeit.

Ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Freude an den Menschen.

So hört nun auf mich, ihr Söhne! Wohl denen, die auf meinen Wegen bleiben.

Hört auf die Unterweisung und werdet weise, und schlagt sie nicht in den Wind.

Wohl dem Menschen, der auf mich hört, der Tag für Tag an meinen Türen wacht, die Pfosten meiner Tore hütet.

Denn wer mich gefunden hat, hat das Leben gefunden und Wohlgefallen erlangt beim HERRN.

Aber wer mich verfehlt, schädigt sich selbst; alle, die mich hassen, lieben den Tod.“

(Sprüche 8, 22-36 nach Übersetzung der Zürcher Bibel)

Wir sehen in diesen Versen eine wunderschöne Parallelisierung zur Schöpfungserzählung von Genesis 1. Hier erzählt die Frau Weisheit, wie sie von Anfang an dabei war und sie die Kraft ist, mit der die Erde gut geordnet wurde. Dass die Erde und die Gemeinschaft dieser Erde gut ist, das lesen wir an verschiedenen Stellen in Genesis 1, wenn Gott dies selbst über die Schöpfung aussagt. Durch die Weisheit können wir erkennen, wie Gott diese Welt geordnet hat. Die Ordnung, die Gott in diese Welt hineingelegt hat ist keine starre oder gar hierarchische Ordnung. Nein, die Welt ist gekennzeichnet und geordnet durch Beziehungen. Gott gestaltet diese Beziehungen gut – in all ihren Verwandtschaften und Abhängigkeiten. Der paradiesische Zustand ist einer der guten und gerechten Beziehungen. Gott war im Stande durch Gottes Weisheit diese Welt so paradiesisch zu gestalten.

Und wir heute?

Wir leben längst nicht mehr im Paradies.

Aber Gott hat sich nicht abgewendet und das Rufen der Frau Weisheit können wir auch heute noch vernehmen.

Weisheit heisst, gute und gerechte Beziehungsstrukturen zu erkennen, sie wertzuschätzen und für sie zu kämpfen, wo sie noch nicht vorhanden sind. Die Weisheit gibt uns eine Einsicht darüber, was gute Beziehung sind und wie sie gepflegt werden können. Beziehungen mit Menschen, die uns nahestehen, aber auch allgemein das menschliche und nicht-menschliche Beziehungsnetz.

Weisheit heisst, sich zu kümmern um andere. Dazu müssen wir bereit sein, auf die Nöte und Bedürfnisse anderer zu hören und uns das Gehörte zu Herz zu nehmen. Es ist diese Art von Herzensbildung, die wir brauchen, wenn wir heute Weisheit erlangen wollen und in dieser Herzenshaltung leben wollen.

Das ist nicht immer einfach, denn es gibt vieles auf dieser Welt, das uns eine andere Pseudo-Weisheit verkaufen will: die Weisheit nach mehr Geld, mehr Macht, mehr Ego. Diese Pseudo-Weisheit hat nichts mit der biblischen Weisheit zu tun und Frau Weisheit grenzt sich von ihr ab:

„Statt Silber nehmt meine Unterweisung an, und Wissen lieber als reines Gold. Denn Weisheit ist besser als Perlen, und keine Kostbarkeit kommt ihr gleich.“

(Sprüche 8, 10-11 nach Übersetzung der Zürcher Bibel)

Wir leben nicht mehr im Paradies, aber wir dürfen uns für paradiesische Beziehungsstrukturen einsetzen. Wir können ins Gespräch kommen mit Gott und Frau Weisheit.

Wir haben jeden Tag die Wahl: wollen wir uns an den weisheitlichen Beziehungen und an Gerechtigkeit ausrichten oder nach unserem eigenen Profit? Diese Wahl steht uns offen, auch heute noch.

Gott und Frau Weisheit locken uns in die eine Richtung.

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Sarah Bach

Bern

sarah.bach@methodisten.ch

Sarah Bach, geb. 1992, Pfarrerin der Evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und Doktorandin der Theologischen Ethik am Institut für Sozialethik der Universität Zürich.

[1] Schroer, Art. Die Gerechtigkeit der Sophia, in: Europäische elektronische Zeitschrift für feministische Exegese, S. 4.