
Unser Zeitgenosse
Predigt zu Lukas 24,36-45| Verfasst von Eberhard Busch
Hören wir am Anfang dieser Predigt den grandiosen Spruch aus dem Hebräerbrief (Kap. 13 Vers 8): „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ Vielleicht kennen wir diesen Vers schon. Aber hören wir ihn jetzt aufs Neue: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ Nicht wahr, das ist doch schier unglaublich! Wer kann das von sich sagen? Von Jesus Christus wird uns das gesagt! Was dieses Wundersame bedeutet, das erläutert uns der eben verlesene Bibeltext zum heutigen Ostermontag.
Da heißt es: „Er selbst, Jesus, trat mitten unter sie.“ Er, der dahingegangen ist, ist nicht fortgegangen. Und er trat nicht nur einst unter seine Nachfolger. Er tritt noch heute mitten unter sie, unter uns. Er ist nicht Vergangenheit geworden, er steht uns gegenwärtig gegenüber. Er ist nicht in seinem Grab verschwunden. Er ist unser Zeitgenosse. So wie er damals war, so ist er jetzt da und grüßt uns: Schalom! „Friede sei mit euch!“ – euch allen, die ihr jetzt nicht wisst, wie es weitergehen soll: Schalom! Ob man es glaubt oder nicht, und auch wenn man es nicht glaubt, es ist doch wahr und ist gültig: „Er ist da, der da hilft und errettet,“ wie es in einem Lied heißt, oder in einem anderen Lied: „Christ, der Retter ist da!’“ Er, der Heiland der Bedrohten, er, der Trost der Verzagten, er, der Wegweiser, wenn Stillstand angesagt ist: Er ist nicht überholt vom Lauf der Zeiten. „All morgen ist ganz frisch und neu, des Herren große Gnad und Treu.“
Am heutigen Tag ist also nicht nur das da, was in der Tageszeitung steht oder was das Fernsehen uns als Nachrichten vorsetzt. Bei weitem nicht! Der da war, der ist auch noch da. Und der ist sicherer da als all das, was uns gerade vor Augen steht, was uns hoffen lässt oder was uns bekümmert. Und der bleibt da. Der wird auch morgen wieder da sein, und übermorgen auch, unter und neben all dem Andern, was jeweils der Brennpunkt ist „Und derselbe auch in Ewigkeit“. Er bleibt, während alles andre einmal zurückgeht und schwindet.
Er versinkt auch dann nicht in Vergessenheit, wenn wir ihn vergessen. Er lebte nicht nur, er lebt. „Jesus Christus gestern und heute.“ Er selbst sorgt dafür, dass er zur Geltung kommt und dass das in Geltung bleibt, was er sagt und tut. Er bleibt nicht außen vor. Was von ihm berichtet ist, ist an jedem neuen Morgen aufs Neue wahr, längst bevor wir es wahr-nehmen. Und er redet oder er schweigt auch zu dem, was uns jeweils bewegt und aufregt. Ist er immer schon da, bevor wir es merken, dann müssen nicht wir ihn aus der Vergangenheit in die Gegenwart übertragen. So als müssten wir ihm Leben einhauchen oder Worte in den Mund legen, weil er ansonsten begraben und vergessen wäre!
Ostern heißt: er lebt nicht bloß von unserem Gedenken, so, wie Hinterbliebene es beim Hingang eines Geliebten zu hören bekommen: sie mögen sich trösten, der Verstorbene lebe in unseren Erinnerungen weiter. Mit Verlaub, mit unseren Erinnerungen ist das so eine Sache. Eine Erklärung dieses Begriffs lautet so: „Erinnerung ist das, was man von vergangener Zeit im Bewusstsein hat.“ Doch gerade so ist unsere Erinnerung ein schwankender Halm im Wind. Man übertüncht das Gewesene mit Gold oder man schwärzt es, man verschweigt vieles oder verdrängt es und man vergisst es im Lauf der Zeit. Der Bielefelder Gelehrte Niklas Luhmann hat geradezu gesagt: „Eine Hauptfunktion des Gehirns liegt im Vergessen.“ Heißt das, dass unsere Erinnerungen wie Spuren im Sand sind, die allmählich vom Winde verweht werden?
Aber Halt! hier geht es gar nicht darum, dass wir uns erinnern, wir mit unserem mehr oder weniger sonderbaren Erinnerungsvermögen. Hier geht es darum, dass er, der damals war, er selbst von sich aus heute sich bei uns einfindet. Hier geht es darum, dass er sich selbst bei uns in Erinnerung bringt. Wie es in dem schlichten Liedvers heißt: „Er kommt auch noch heute / und lehret die Leute … , wie sie von Irrtum und Torheit / treten zu der Wahrheit.“
Gewiss, er erscheint als derselbe unter uns. Es ist exakt der und kein Anderer: der, der im Stall von Bethlehem zur Welt kam, der in Galiläa predigte und Kranke heilte, der Toten das Leben gab und der selbst am Kreuz in Jerusalem starb. Er kommt wohl anders zu uns als damals. Manchmal auf leisen Sohlen, manchmal in sausendem Schritt, zuweilen im Widerspruch zu dem, was wir uns wünschen, zuweilen im Einklang mit dem, was uns unverhoffte Gestalten kundtun. „Er weiß viel tausend Weisen“, zu uns zu kommen. Aber es ist jedes Mal derselbe, der bei uns zum Rechten schaut. So ist er bei uns im Leben und im Sterben. Auch wenn es einmal mit uns zu Ende ist, sind wir in seiner Hut.
Doch wie manche sehen und verstehen das nicht! Und wie manches Mal gehören wir auch zu diesen Leuten! Da sieht man nicht, was augenscheinlich ist. Man hat da wie ein Brett vor dem Kopf und ist richtig begriffsstutzig. So, wie es sogar von den Jüngern Jesu berichtet wird. Er gibt sich ihnen zu erkennen, aber sie erkennen ihn nicht. Er steht vor ihnen, grüßt sie, so wie zuvor: Schalom! Friede! Aber was machen sie? Sie schlottern vor Angst und meinen, es mit einem Gespenst zu tun zu haben. Dann zeigt er seine durchbohrten Hände und Füße, dann legt er ihnen wie zuvor etwas zum Essen vor. Aber nein, es geht ihnen noch immer kein Licht auf. In gewisser Hinsicht haben sie zwar recht: einem Phantom soll und darf man um Himmels willen nicht nachlaufen, wie das sonst gar nicht so selten vorkommt. Gott bewahre uns vor Illusionen und Hirngespinsten!
Und der Gott, der uns in Jesus Christus entgegentritt, der kann das. Und der tut, was er kann. Er sorgt für Aufklärung. Er schenkt seinen Kindern, dass ihnen ein Licht aufgeht. Er schafft die Unterscheidung zwischen Trug und Wahrheit. Der ist nämlich nicht nur heute da, der war auch zuvor schon da, auch damals. Er vergisst das Damals nicht, geschweige dass er es verdrängt. Nein, keine Rede davon! „Jesus Christus gestern und heute …“ Er war schon damals da, so, wie es uns die Heilige Schrift bezeugt. Wohlgemerkt: In dem Verwirrenden, das wir heute von verschiedenen Seiten hören, ist es unerlässlich nötig, dass wir genau auf diese Heilige Schrift achten, Bibel Alten und Neuen Testaments. Sie sagt Vieles und in ihr redet nur Einer. Jesus selbst weist darauf hin: auf „die Reden, die ich euch sagte, als ich unter euch war“. Und so „öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie die Schrift verstanden“. Wir haben Grund, darum zu bitten: Gib offene Ohren, dass wir seine Stimme nicht überhören.
Man muss zwar bei weitem nicht alles in der Bibel verstehen. Aber es ist eine schöne Erfahrung, dass zu verschiedenen Zeiten jeweils ein Satz in ihr zu leuchten anfängt, heller als zuvor bemerkt: ein wegweisender Satz, in dem jener Eine so redet wie damals, als er unter seinen Nachfolgern redete, ein Satz, der seiner Gemeinde zum Leitwort wird für das, wie sie auf ihn hören und ihm folgen muss. Es ist schon so, dass dann jeweils solch ein Leitwort in der Bibel zum Schlüssel wird, der unserm vernagelten Denken eine verschlossene Türe öffnet, und zum Kompass, der unser unsicheres Handeln und Wandeln in die richtige Richtung weist.
Im Jahr 1941 wurde ein wenig beachtetes Bibelwort in den Schweizer Kirchen zum Motto, damals, als dort die Grenzen für Judenflüchtlinge geschlossen wurden – Johannes 4,22: „Das Heil kommt von den Juden“, das heißt: es kommt Unheil über uns, wenn wir sie abweisen. Da wussten die Christen, wofür sie einzustehen hatten. … Im Jahr 1986 haben Christen in Südafrika angesichts der rassischen Unterdrückung der Farbigen durch die weiße Minderheit sich zur Botschaft von der befreienden Versöhnung in Christus bekannt – laut 2. Korinther 5,19: „Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ Sie haben damit den Weg gebahnt für die Überwindung der Apartheid in ihrem Land und sonstwo.
Und heute? Es hat kürzlich die Parole in Europa die Runde gemacht: „Wir haben alles zu tun, um unsre Grenzen zu schützen.“ Gemeint war damit bekanntlich: wir hätten um alles in der Welt dafür zu sorgen, dass die Fremdlinge von weither dort bleiben sollen, wo sie uns nichts mehr angehen: dort, wo sie, die Klimaflüchtlinge, uns aus den Augen, aus dem Sinn sind. Aber während man den Eifer darein setzte, unsere Grenzen zu schützen, kam statt dessen ein Anderes über unsere Grenzen, heimtückisch, unaufhaltsam: ein lebensbedrohliches Virus. Ist es jetzt nicht an der Zeit, mit all den Bedürftigen und für all die Bedrohten zu beten, so wie einst die Jünger Jesu zu ihrem Meister: „HERR, hilf uns, wir verderben“ (Matth 8,25)?! Amen
Eberhard Busch, Friedland