
Wer bist du?
4. Advent 2020 | Johannes 1,19-28 (dänische Perikopenordnung) | von Poul Joachim Stender |
Wer bist du?
Neulich wurde ich im Fernsehen interviewt. Als die Aufnahme begann, überrumpelte mich der Journalist, indem er unumwunden fragte: „Wer bist du“? Was soll man da antworten? Ich faselte etwas davon, dass ich viele Ichs habe. Und dass ich gar nicht so sehr daran interessiert sei, mich selbst zu kennen. Ich wollte lieber andere kennenlernen. Die Begegnung mit einem selbst ist leider, meiner Erfahrung nach, nicht so phantastisch, wie sich die Leute das einbilden. Ich habe immer einen recht unsympathischen egoistischen armen Kerl in mir selbst gefunden. Ich begreife nicht, dass so viele Leute sich selbst finden wollen. Wir Menschen haben viele gute Seiten. Aber wenn man sich selbst begegnet, findet man auch einen waschechten Sünder. Nun im Nachhinein weiß ich, was ich dem Journalisten hätte sagen sollen. Ich hätte sagen sollen: „Ich bin ein Geschöpf Gottes. Und da ich von Gott geschaffen bin, muss ich ein Mysterium sein, das nicht einmal ich fassen kann. Deshalb weiß ich nicht, wer ich bin“. Ich hätte auch sagen können, dass ich der Nächste meiner Mitmenschen bin. Mich sollen sie, einschließlich des Journalisten, lieben wie sich selbst. Hier in der Weihnachtszeit hat man ein sehr gutes Gefühl, wenn man umhergeht und weiß, dass einen die Mitmenschen aus der Distanz lieben sollen.
Wenn wir gefragt werden, wer wir sind, können wir mit Klischees antworten, etwa dass wir suchende Menschen sind, oder ein Mensch, der gerne etwas Besonderes bewirken will. Ich weiß nicht, warum es so fein ist, ein suchender Mensch zu sein. Das große an uns ist doch, dass wir von Gott gefunden sind in der ersten Weihnacht. Wer sind wir? Wir sind ein gefundener Schatz! Ich weiß auch nicht, warum alle etwas Besonderes bewirken wollen. So schlimm ist es doch auch nicht, dass man nicht schlimmer ist als alle anderen
Wenn wir gefragt werden, wer wir sind, antworten wir gerne mit einer Beschreibung unseres Berufs. Hier in Dänemark definieren wir uns selbst durch unsere Arbeit. Und wenn wir das nicht tun, dann zählen wir alle unsere Funktionen auf. Ich bin Ehegatte. Ich bin Vater. Ich bin Däne usw. usw. Aber wäre es nicht eine Idee, sich auch von Gott her zu definieren? Wer bist du? Ich bin Gottes Geschöpf, ich bin Christ, ich bin der oder die, die von Christus geliebt sind. Wenn wir versuchen, uns selbst aus dieser Perspektive zu definieren und nicht allein durch unsere Arbeit oder all das, was ich hier erwähnt habe, gelangen wir vielleicht zu einem tieferen und schöneren Verständnis davon, wer wir sind.
Ich stelle nun die Frage an jeden einzelnen von Euch auf den Kirchenbänken: Wer bist du? Jesus fragte mehrmals seine Jünger, wer er sei. Und sie antworteten: Du bist der Sohn des lebendigen Gottes. Dasselbe bekam er zu hören, als er im Jordan getauft wurde. Eine Stimme vom Himmel, Gott selbst, proklamierte: „Du bist mein geliebter Sohn“. Johannes der Täufer wurde auch gefragt, wer er war. Und er antwortete: „Ich bin nicht Christus. Ich bin ein Rufer in der Wüste, der ruft: Baht dem Herrn den Weg“. Für die Beantwortung der Frage danach, wer wir sind, kann man viel bei den verschiedenen Antworten von Johannes dem Täufer lernen. Der sagte: „Ich bin nicht Christus!“ Das sind wir auch nicht. Wir sind nicht Gott. Wir verhalten uns oft so, als würden wir das Leben beherrschen und als würde alles nur dank unserer Leistungen gelingen. Aber wir sind Menschen. Wir weder können noch sollen alles beherrschen. Gott nimmt sich unser an. Lasst uns wieder Menschen sein, so dass wir, wenn wir gefragt werden, wer wir sind, antworten können: „Ich bin ein Mensch“. Eine große Sache ist das, ein Mensch zu sein. Unter anderem, weil Gott in Jesus Mensch wurde.
Wir können aber auch die Worte verwenden, die Jesus von seinem Vetter Johannes sagt: Er ist der, „von dem geschrieben steht: Siehe, ich sende meinen Engel vor dir, er soll den Weg bahnen“. Denkt nur, wenn wir auf die Frage: danach, wer wir sind, mit den Worten antworten können: „Ich bin der Engel, der den Weg bahnt für Christus und meine Mitmenschen“. Wer sind wir? Wir sind Sünder. Wir sind Menschen. Und dennoch sind wir Engel, die den Weg bereiten können für Jesus, indem wir allen und jedem erzählen, dass der Sohn Gottes Blinde sehen lässt, Aussätzige rein werden lässt, Taube hören lässt und dass er zudem auch die Toten auferweckt.
Nun ist bald Weihnachten. Noch vier Tage. Und mehr denn je ist es notwendig, dass ein Weg gebahnt wird von einigen Engeln, so dass die Dänen merken: Wir feiern Weihnachten, weil Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Letzten Donnerstag hatten wir Konzert in unserer Kirche. Die Leute konnten wählen, was für Weihnachtslieder sie singen wollten. Sie wählten recht lustige, aber weltliche und nicht sehr geistliche dänische Weihnachtslieder – ohne jeden ernsten Inhalt und jeden Bezug auf die Geburt Jesu. Die Lieder wurden laut und mit großer Begeisterung gesungen. Wir saßen mit dem vorgeschriebenen Abstand von zwei Metern! Aber als die Lieder von Jesus in der Krippe auf meine Initiative hin endlich dran waren, wurden sie nahezu geflüstert. Dasselbe sehen wir mit dem Weihnachtsschmuck, der unser Weihnachten dominiert. Er ist frei von christlichen Symbolen und Erzählungen, wie die Jungfrau Maria das Jesuskind gebar im Stall von Bethlehem.
Nun frage ich wieder und ein letztes Mal: „Wer bist du?“ Du bist kein Heinzelmännchen auf dem Dachboden, kein Weihnachtsmann. Kein suchender Mensch. Nicht jemand, der etwas Besonderes leisten muss. Du bist ein Sünder, aber zugleich bist du auch ein Engel, ein gefundener Schatz, der Christus den Weg bereiten kann, so dass er vielleicht in diesem Jahr bei seinem eigenen Geburtstag dabei sein kann.
Gott befohlen. Amen.
Pastor Poul Joachim Stender
DK 4060 Kirke Såby
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