Woran
denken Sie bei Ostern? – von Ulrich Nembach
Liebe Gemeinde,
wir alle kennen
Ostern. Darum kommen uns keine neuen Gedanken, wenn wir an Ostern denken.
Neu ist in der Tat nicht das Fest, der Kirchgang, der Urlaub in Mallorca
oder anderswo. Nur ist das nicht alles. Als ich längere Zeit über
Ostern nachdachte, fiel mir Neues ein und selbst Bekanntes bot Neues,
viel Neues, wie ich feststellte. Ich war überrascht, und auch Sie
werden vielleicht überrascht sein, wenn ich Ihnen nun davon erzähle.
I.
Vor Jahren hörte ich ganz leise und zarte Klänge. Es war an
einem Ostermorgen in einer alten Kirche. Die Musik begann mit einer
Flöte, vielleicht einer Piccolloflöte. Dann gesellten sich
weitere Instrumente dazu. Langsam ertönten sie, mischten sich ein.
Ich war fasziniert, erstaunt, ratlos und auch etwas ärgerlich.
Seitdem geht die Musik mir nicht mehr aus dem Kopf.
Was war geschehen?
Ein damals junger Musiker, Oskar Gottlieb Blarr (geb. 6.5.1934 in Bartenstein/Ostpreußen,
seit 1961 Kantor an der Neanderkirche in Düsseldorf) spielte. Er
war erst vor kurzer Zeit nach Düsseldorf gekommen und noch weitgehend
unbekannt. Er musizierte an jenem Ostermorgen. Ich hatte Bachs Musik
im Ohr und erwartete nun etwas Ähnliches, aber Blarr spielte ganz
anders. Ich war erstaunt und auch etwas verärgert. Allmählich
begriff ich dann, dass Blarr jenen Ostermorgen in Jerusalem vor fast
2000 Jahren meinte. Bach hatte auch Jerusalem vor Augen, aber er sah
die Geschehnisse anders. Blarr entdeckte dabei Dinge, die Bach und ich
mit ihm so noch nicht gesehen hatten. Ruhe und Konflikte herrschten
damals in Jerusalem. Die leisen Töne der Flöte erinnerten
daran:
Vor 2000 Jahren
war Jerusalem eine ruhige Stadt. Es wurde nicht geschossen und gebombt.
Das Pulver war im Orient und in Europa noch unbekannt. Noch Jahrhunderte
sollten vergehen, bis das Pulver in Europa erfunden wurde. Trotz aller
Ruhe gab es aber Ärger, und nicht wenig. Es wurden zwei, im Grunde
genommen sogar drei Konflikte gleichzeitig ausgetragen.
Es gab den zwischen
Juden und der römischen Besatzungsmacht. Diese war nicht zimperlich;
selbst vor dem Tode schreckte sie nicht zurück. Die Römer
hatten sich mit der Kreuzigung für eine besonders grausame Tötungsart
entschieden, das Kreuzigen. Stunden, eventuell Tage hing der arme Verurteilte
in der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht, bis er endlich
starb. Dass diese Besatzungsmacht nicht beliebt war, brauche ich nicht
zu betonen.
Zweitens gab es
einen innerjüdischen Konflikt, den zwischen jüdischen Gruppen
untereinander. Ein junger Mann aus dem Norden Israels, Jesus, lehrte
anders als die Vertreter der ehr-würdigen, überlieferten Religion.
Der Konflikt endete für Jesus tödlich an einem jener Kreuze.
Bei Jerusalem war extra ein besonderer Ort dafür reserviert. Dort
standen gleich mehrere Kreuze.
Der dritte Konflikt
war noch schwerer. Ja, eine Steigerung war möglich. Diesen Konflikt
zu beschreiben, ist darum schwierig. Blarr wollte dies mit seiner Musik.
Andere haben eine Beschreibung ebenfalls versucht. Ich erwähnte
schon Bach. Zu ihnen gehörten zahlreiche andere, u.a. auch Goethe.
Sein Drama Faust, eine der größten deutschsprachigen schriftstellerischen
Leistungen, ja, wohl die größte überhaupt, behandelt
diesen Konflikt, diesen dritten aus dem Jerusalem der damaligen Zeit.
Goethe verlegt den Konflikt nach Europa und dort in eine alte Universitätsstadt.
Wenn wir Ostern von diesem Drama her lesen, entdecken wir neue, von
uns sonst nicht bedachte Seiten. Auch das Drama selbst erscheint dabei
in einem neuen Licht. Heute wird das Drama als Menschheitsdrama verstanden.
Das war nicht immer so. Beispielsweise sahen die Dichter des Sturm und
Drang in der Person des Faust eine titanische Persönlichkeit (vgl.
den Artikel „Faust“, in. Meyers Großes Taschenlexikon,
7. Aufl, Mannheim u.a., Bd. 6, S. 280). Goethe wollte mit seinem Drama
weder ein Menschheitsdrama schreiben noch eine titanische Persönlichkeit
porträtieren. Ich meine, dass Goethe etwas anderes wollte. Schauen
wir selbst in den Text. Was schreibt er konkret?
Goethe beginnt
mit einer großen Einleitung, die Schritt für Schritt zielstrebig
zu seinem Thema hinführt. Das Thema ist der genannte 3. Konflikt
von Jerusalem. Es ist ein grundsätzlicher Konflikt, der von Leben
und Tod. Leider verliert das Leben immer. Immer? Verliert das Leben
wirklich immer? Schauen wir, was Goethe meint.
Goethe führt
uns in seiner Einleitung zielbewusst zu Ostern hin. Von dieser Basis
her beginnt Goethe, den Konflikt von Leben und Tod darzustellen. Goethe
geht ähnlich wie Blarr vor. Was jener mit Hilfe der Musik ausdrückt,
tut Goethe mit Worten, die ganz harmlos klingen. Er beschreibt einen
Osterspaziergang. Wie wir ihn alle kennen, als Kinder uns dabei langweilten
und es nun als Erwachsene selbst praktizieren. Aber dann geht es los.
Vom Start weg legt Goethe ein enormes Tempo vor.
II.
Goethe redet nicht über den Konflikt, sondern lässt ihn vor
unseren Augen abrollen, macht uns zu Zeugen, zu Beteiligten. Und wir
kennen uns dabei aus, mindestens meinen wir das. Wie ich auch der Meinung
war, Ostern zu kennen, und Blarr mich dann gründlich wachrüttelte.
Goethe beschreibt
den Konflikt im Rahmen einer Liebesgeschichte. Er macht aber nicht eine
alltägliche Sonntagsabend-Unterhaltung daraus, wie wir sie vom
ZDF her kennen. Auch gestaltet Goethe keinen Krimi, keinen „Tatort“
oder dgl., obwohl es Tote gibt. Drei Personen kommen um. Die Geschichte,
die Goethe erzählt, ist, wie gesagt, eine Liebesgeschichte zwischen
einem älteren Mann, Faust, und einer jungen Frau, Gretchen. Beide
verlieben sich ineinander unsterblich. Ja, unsterblich ist ihre Liebe,
aber in einem anderen Sinn, als wir landläufig von einer „unsterblichen
Liebe“ sprechen. Doch davon später mehr, denn die Liebe der
Beiden ist Teil jenes dritten Konflikts in Jerusalem.
Der ältere
Mann, Faust, ein erfolgreicher, allseits geachteter Wissenschaftler,
sieht seine Grenzen und die der Wissenschaft überhaupt. Er fragt
sich, warum er alle diese Arbeiten, diese Mühen auf sich nahm.
Er, gerade er, vermag die Grenzen der Wissenschaft zu erkennen. Er ist
verzweifelt. In seiner Verzweiflung schließt er einen Bund mit
dem Teufel. Der Teufel, erfreut, ein Opfer gefunden zu haben, sagt Hilfe
zu und inszeniert allerlei Unterhaltungsspiele. So nimmt er Faust mit
in den Harz zum Hexentanz. Das ist aber für einen Mann wie Faust
zu leichte Unterhaltung. Dann begegnet Faust einer jungen Frau, Gretchen.
Er verliebt sich in sie Hals über Kopf. Er versucht alles, um ihre
Liebe zu gewinnen. Schließlich hat er auch Erfolg. Die Beiden
schweben auf „Wolke 7“. Leider ist aber die Erde da. Der Boden
der Tatsachen fordert sein Recht. Die Beiden wollen aber von ihrer Liebe
nicht lassen. Die Folge sind drei Tote. Die Folge davon ist, dass Polizei
und Justiz nicht auf sich warten lassen. Gretchen wird verhaftet und
zum Tode verurteilt. Faust kann fliehen. Er lässt aber sein Gretchen
nicht im Stich. Er bereitet einen Fluchtplan für die Geliebte vor.
Es gelingt ihm, ins Gefängnis einzudringen und bis zu Gretchen
in deren Zelle. Da scheitert das Unternehmen. Gretchen liebt den Mann
noch immer, aber sie weigert sich, das Gefängnis zu verlassen,
Sie kann die begangenen Verbrechen nicht vergessen.
Ja nun, erst jetzt
kommt der 3. Konflikt zur Sprache. Alles, was bis jetzt geschah, lief
auf diesen Höhepunkt zu. Alter, Grenzen der Liebe und der Wissenschaft,
Verzweiflung – alle sind sie uns vertraute Probleme. Die Zeitungen sind
voll von Berichten. Alles das gehört zu unserem Leben, ist Teil
von unserem Leben. Der Tod ist auch ein Teil davon, wie manche sagen.
Andererseits muss ich mich fragen: warum dann kaum jemand gern stirbt,
warum wir uns Operationen unterziehen, Chemotherapien machen?
Sehen Sie, es geht
um Tod und Leben. Das ist der dritte Konflikt. In Jerusalem fand ein
Kampf zwischen Tod und Leben statt. Der Tod siegte – zunächst.
Die erste Halbzeit ging an ihn, aber die zweite ans Leben. Jesus, der
Lehrer aus dem Norden, starb. Er starb am Karfreitag, aber am Sonntag,
Ostern, stand er auf.
Der Tod, der sonst
so Erfolgreiche, verlor! Das ist unglaublich, aber wahr. Goethe selbst
wird fast sprachlos. Er hat den Konflikt wortgewaltig und kenntnisreich
beschrieben. Das Verlieren des Todes macht ihn fast sprachlos. Nur ein
Wort fällt ihm ein: „Gerettet“.
Die Kirchen und
die Theologen, nicht gerade für ihr Schweigen bekannt, lassen am
Ostermorgen alle Glocken läuten. Wunderbar klingt dann das Geläut
der großen Dome. Die schweißtreibende, Jahrhunderte alte
Kunst des Glockengießens zeigt ihre Erfolge. Auch die Kunst, die
Glocken hoch auf die Kirchtürme zu hieven, dort schwingen zu lassen,
trägt das Ihre bei. So können die Glocken weit über Stadt
und Land erklingen. In Ostasien werden Glocken in der Regel erdnah angebracht
und mit einem Balken per Hand angeschlagen.
Die Bibel, auch
sie hat Probleme, den Sieg des Lebens über den Tod zu beschreiben.
Als Frauen als Erste zu Jesu Grab kommen, erleben sie eine Überraschung-
Später berichten sie ihren Freunden, den Jüngern; diese überprüfen
den Bericht, finden ihn bestätigt und haben Probleme, das Berichtete
zu glauben.
III.
Glauben Sie an den Sieg des Lebens, an Ostern? Wenn das Neue Ihnen noch
immer zu neu ist, resignieren Sie nicht, sondern gehen Sie wie eine
Gruppe von Frauen vor 2000 Jahren, zur Zeit der 3 Konflikte in Jerusalem.
Sie suchten die Gemeinschaft der Jünger. Wir Menschen brauchen
Gemeinschaft. Lesen wir nach im Neuen Testament, bei Lukas 24,13-35.
Amen
Prof. Dr. Dr.
Ulrich Nembach
E-Mail: unembac@gwdg.de