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An der 5. Dialogveranstaltung im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 67 «Lebensende» herrschte zwischen Vertreterinnen aus Forschung und Praxis viel Einigkeit: Die Diversität bei Betroffenen und Fachleuten nimmt zu, Spiritualität und Lebenssinn sind beim Sterben wichtige Themen und Fachpersonen aller Disziplinen sollten Raum geben zum Reden über das Sterben.
«Es findet eine gesellschaftliche Normierung statt.» Es gebe allgemeingültige Regeln und Rollen – auch beim Sterben, sagte Ursula Streckeisen. Die Soziologin ist Mitglied der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms «End of Life» NFP 67 des Schweizerischen Nationalfonds. Streckeisen eröffnete die 5. Dialogveranstaltung des NFP 67, die am 8. Dezember in Bern stattfand. Der Titel: «Das gute Sterben: Gesellschaftliche Vorstellungen und Ideale». Andrea Büchler, die Präsidentin der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NEK, die ebenfalls ein Grusswort an die zahlreich Anwesenden richtete, pflichtete Streckeisen bei. Sie sagte, die Nationale Ethikkommission arbeite seit einigen Jahren am Thema «Kultur des Sterbens». «Wir setzen damit einen Kontrapunkt zur Verengung des Themas.»
Drei Studien im Rahmen des NFP 67 wurden an der Dialogveranstaltung mit Fachpersonen aus der Forschung und aus der Praxis diskutiert. Deutlich wurde dabei, dass Menschen am Lebensende Betreuende brauchen, die fähig sind, immer wieder auch über das eigene Fachgebiet hinaus zu agieren und sensibel zu sein.
Palliative Care angelsächsisch und protestantisch geprägt
Über die Situation von Migrantinnen und Migranten am Lebensende in der Schweiz haben Corina Salis Gross und Kolleginnen geforscht. Sie stellten fest, dass die Grundsätze der Palliative Care bereits in Altersheimen aufgenommen wurden. «Aber eher implizit und pragmatisch», so Salis Gross. Also ohne explizite Reflexion im Team oder schriftliche Festlegung in Grundlagendokumenten. Problematisch hierbei: «Das ‚Konzept des guten Sterbens’ aus der Palliative Care ist sehr stark angelsächsisch und protestantisch geprägt.» Dies könne schon bei sehr stark katholisch geprägten Bewohnenden zu Clashes und damit zu Problemen führen. Interessanterweise ist laut den Forschungsergebnissen von Salis Gross und ihrem Team die migrationsspezifische Diversität in Altersheimen meist nur vorübergehend sichtbar. Ganz am Ende des Lebens scheinen die Unterschiede kaum mehr entscheidend zu sein. «In den konkreten Sterbeverläufen sind die Bedürfnisse kaum mehr unterscheidbar.»
Simon Peng-Keller berichtete von seinen Studienergebnissen über das «bildhafte Erleben am Lebensende». Sterbende haben demnach Träume und Fantasien «mit visionärer Qualität», das heisst, viele ihrer Träume und Fantasien sind hyperrealistisch. Peng-Keller spricht von «Traumvisionen» und «Wachvisionen». Diese Phänomene, so Peng-Keller, würden gemeinhin als ausserordentlich bezeichnet. «Der Punkt ist: Am Lebensende sind diese Phänomene nichts Ausserordentliches.» In einer Studie von Christopher W. Kerr (2014) berichteten 88,1 Prozent der befragten Hospizpatientinnen und -patienten von Traum- oder Wachvisionen. «Das Phänomen ist also häufig und von subjektiv sehr grosser Wichtigkeit», so Peng-Keller. Aber im klinischen Kontext würden Äusserungen dazu als Delir wahrgenommen, also als Problem. «Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um eine Ressource!» Denn die Visionen seien meist tröstlich mit kreativ-belebender Kraft. Wichtig sei es darum, Begleitende zu sensibilisieren für die Vielfalt an bildhaften Erlebnisformen in Todesnähe und auch für deren Bedeutung für Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige.
Spiritualität und Lebenssinn als Schutzschilder
Von einer Studie an der Universität Lausanne berichtete Mathieu Bernard. Die explorative Querschnittsstudie in drei Schweizer Sprachregionen «Lebenssinn, Spiritualität und Wertvorstellungen bei Menschen am Lebensende» zeigt, welche Bedeutung Spiritualität und Lebenssinn am Ende des Lebens haben. Es zeigte sich, dass Palliativpatientinnen und -patienten eine höhere Zufriedenheit als die übrige Bevölkerung in jenen Bereichen angeben, die Lebenssinn vermitteln. «Spiritualität» und «persönliche Entwicklung» wurden von Betroffenen häufiger erwähnt als in der Restbevölkerung. Vor allem zeigt die Studie: Spiritualität und Lebenssinn sind lindernde Faktoren in Bezug auf psychologische Belastung.
Verschiedene Praxisvertreterinnen zeigten sich insgesamt sehr erfreut über die Bemühungen der Forschung, für die Betreuung am Lebensende relevante Erkenntnisse hervorzubringen. Sie fühlten sich bei einigen Studienergebnissen auch in ihren eigenen Beobachtungen bestätigt. Sibllye Jean-Petit-Matile, Ärztliche Leitung Stiftung Hospiz Zentralschweiz, sagte mit Blick auf die kulturellen Unterschiede von Sterbenden: «Wir Menschen sind uns in vielem ähnlicher als wir wissen oder wahrhaben wollen.» Wichtig sei ihr, dass Menschen den Mut fänden, über das zu sprechen, was auf uns zukomme: Das Sterben. «Reden über das Sterben, das schafft für die Betroffenen einen Raum, um wahrgenommen zu werden.»
Diversität steigt – bei Betroffenen und bei Fachleuten
Hildegard Hungerbühler, die Leiterin Grundlagen und Entwicklung des Schweizerischen Roten Kreuzes, die empirische Erkenntnisse aus der Wissenschaft für Praktikerinnen und Praktiker aufbereitet, findet ebenfalls: «Die Forschung von Salis Gross ist hochgradig praxisrelevant.» Denn wie sich inzwischen gezeigt habe, bleiben ältere Migrantinnen und Migranten in der Schweiz und gehen am Ende ihres Lebens nicht in ihre Herkunftsländer zurück. Hungerbühler hört aus den Institutionen immer lauter den Ruf nach «Handlungsrichtlinien». Darum sei auch migrationssensitive Palliative Care enorm wichtig. Palliative Care werde gerade von vielen Menschen aus dem Süden als «fremdes Konzept» wahrgenommen. Viele fühlten sich benachteiligt, nicht «richtig behandelt», weil keine kurativen Massnahmen ergriffen würden. Hungerbühler betonte derweil auch: «So vielfältig wie die Bedürfnisse bei allen alten Menschen sind, so vielfältig sind wohl auch die Bedürfnisse beim Sterben.»
Die Diversität wurde im Anschluss zum Ende der Veranstaltung intensiv diskutiert. Nicht nur bei den Sterbenden sei Diversität immer mehr ein Thema, als logische Folge der demografischen Entwicklung. Auch durch die Professionalisierung im Bereich Palliative Care werde sie immer wichtiger, beispielsweise durch die steigende Multiprofessionalität. Aber auch die Vielfalt der kulturellen und weltanschaulichen Hintergründe nimmt sowohl bei Patientinnen und Patienten als auch bei Betreuenden zu. Eine grosse Herausforderung für die Fachleute, die Komplexität nimmt klar zu. Der Aspekt der Diversität müsse darum mehr Eingang finden in die professionellen Rollen, so der Tenor. – Ohne dabei die Unterschiede weiter zu verstärken oder übermässig zu betonen.
Spiritual Care als interprofessionelle Aufgabe
Die Spitalpfarrerin und Ausbildungsleiterin Palliative und Spiritual Care Karin Tschanz zeigte sich zudem von der Forschung zu Lebenssinn, Spiritualität und Wertvorstellungen angetan. Auch sie nimmt in ihrem Alltag wahr, dass persönliches Wachstum am Ende eines Lebens sehr wichtig sei – und dass die Wichtigkeit der Arbeit mit sinkender Lebenserwartung abnehme. Zur Forschung von Peng-Keller meinte sie: «Schön, dass es jetzt jemand erforscht und gesagt hat!» Sie habe dieses «Phänomen» ebenfalls sehr oft erlebt an Sterbebetten. «Und das ist kein Delir.» Tschanz fragte zum Ende, wer eigentlich zuständig sei für Spiritual Care. Und lieferte selber die Antwort: «Spiritual Care und Seelsorge ist eine interprofessionelle Aufgabe.» Es brauche alle Professionen in dieser Betreuung und es gebe dafür wo nötig auch spezifisch geschulte Fachleute – die Seelsorgenden. «Am Schluss wissen wir alle nicht, wie wir sterben werden. Wichtig war das Leben davor, sind die Beziehungen und die Spiritualität bis ganz zum Schluss.»
Quelle: palliative zh+sh