2. Korinther 3, 2-9

2. Korinther 3, 2-9

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost


20.
Sonntag nach Trinitatis, 13. Oktober 2002
Predigt über 2. Korinther 3, 2-9, verfaßt von Reinhard Schmidt-Rost

2. Kor. 3, 2-9
Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von
allen Menschen! Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi
seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern
mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern
auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen.
Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. Nicht dass wir
tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber,
sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig
gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern
des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Wenn aber schon das Amt, das den Tod bringt und das mit Buchstaben in
Stein gehauen war, Herrlichkeit hatte, so dass die Israeliten das Angesicht
des Mose nicht ansehen konnten wegen der Herrlichkeit auf seinem Angesicht,
die doch aufhörte, wie sollte nicht viel mehr das Amt, das den Geist
gibt, Herrlichkeit haben? Denn wenn das Amt, das zur Verdammnis führt,
Herrlichkeit hatte, wieviel mehr hat das Amt, das zur Gerechtigkeit führt,
überschwengliche Herrlichkeit.

Liebe Gemeinde,

Von Buchstaben ist unser Leben umstellt –
in Zeitungen, Büchern, Bekanntmachungen,
in Gesetzen, Gebrauchsanweisungen, Richtlinien und Verlautbarungen,
in Werbung, Ankündigung, Programmen –
in Akten, Formularen, Rezepturen …

„Fassen wir uns kurz. Die Welt ist übervölkert von Worten“
(Stanislav Lec, Alle unfrisierten Gedanken, Motto).

Aber heute geht es nicht um die Buchstaben als Druckerzeugnis, sondern
um den Buchstaben, der Gesetz und Ordnung festschreibt.

Die steinernen Tafeln sind schon lange ausrangiert, auch Schiefertafeln
werden kaum noch benutzt, – und die Tinte fließt weniger durch Stifte,
als aus Tintenstrahldruckern,
aber der Buchstabe des Gesetzes herrscht weiter über den Geist:

Kein Fußball- oder Handballspiel ohne Regeln,
kein Staat ohne Steuergesetzgebung,
keine Gesellschaft ohne Strafrecht,
keine Kirche ohne Ordnung …

Der Buchstabe des Gesetzes ist allgegenwärtig; und ist er nicht
allheilsam, so doch unvermeidlich: Wie schnell artet ein Spiel ohne Regeln
und Richter in Willkür der Stärkeren oder Aggressionen der Schwächeren
aus, auch wenn jeder weiß, wie schön ein freiwillig-faires
Spiel sein kann.
Es würden sich „Stark“ und „Schwach“ in jeder
Gesellschaft ohne Gesetze und Rechtsprechung polarisieren. Und eine Kirche
ohne Ordnung, nur vom Geist geleitet? Diese Vorstellung, diese Hoffnung
des Herzens überfordert das Hirn , – und so werden Kirchenordnungen
und Leitlinien kirchlichen Handelns geschrieben und beschlossen und veröffentlicht,
viel Lebenszeit wird darauf verwandt, die Ordnung zu hüten, damit
sie dem Geist und seiner Dynamik standhält, …

So werden in der einen Kirche Kinder vom Abendmahl ferngehalten, weil
sie es noch nicht bewusst genug genießen, während eine andere
Kirche alle Kinder zum Abendmahl zuläßt; zugleich lässt
eben diese Kirche keine Frau zum Priesteramt zu, was in der anderen schon
längst selbstverständlich ist. Die Ansichten, wie der Buchstaben
des Gesetzes auszulegen sei, gehen weit auseinander.

Der Geist aber würde die Vielfalt zulassen, weil er sich seiner
Sache, der Sache Gottes sicher wäre. Denn eben dies ist Gottes Sache,
daß er durch seinen Geist Freiheit vom Buchstaben bewirkt, ohne
daß darüber das für Menschen notwendige Maß an Ordnung
verloren geht. Menschengeist vermag das nicht, weil er jeweils an eine
einzige Person gebunden ist. Gottes Geist verbindet.

Aber es haben nicht nur die Ordnungshüter in den Kirchen ihre Probleme
mit Geist und Buchstaben, auch der Staat, er erst recht: Auch dafür
gibt es alltägliche Beispiele, nicht selten ziemlich seltsam:

So werden Menschen ohne Ansehen der Person, auch sehr gebildete Menschen
in vorgerücktem Alter, Doktorinnen und Dozenten ohne Stelle, nur
deshalb von staatlichen Arbeitsämtern zu Fortbildungen einberufen,
damit die Arbeitsverwaltung behaupten kann, es habe alles seine Ordnung;
auch dem Kunstgeschichtler mit Doktortitel, aber ohne Arbeit kann nicht
einfach Arbeitslosen-Hilfe gezahlt werden; der Buchstabe des Gesetzes
muß erfüllt, die vorgeschriebenen Bildungsmaßnahmen müssen
durchgeführt werden, auch wenn die Lehrer bei solchen Aktionen weniger
Bildung haben als ihre Schüler.

Der Geist würde die einzelnen Menschen, die von Arbeitslosigkeit
betroffen sind, als einzelne mit ihren besonderen Gaben gelten lassen
und vielleicht sogar den Gedanken entzünden, daß die klugen,
aber nicht vermittelbaren Personen selbst als Lehrer für weniger
helle Köpfe eingesetzt werden könnten. Aber das würde die
amtlichen Ordnungen, den Buchstaben der Tarifvereinbarungen und Arbeitslosen-Hilfe-Bestimmungen
gefährden, würde möglicherweise Veränderungen beim
Personal hervorrufen, alles schmerzliche Prozesse der Veränderung,
die sich ein Staat nicht leisten zu können meint. Die Ausrede lautet
dann: „Wir können nicht für alle individuelle Lösungen
stricken.“

Gewiß, ohne gesetzliche Konstruktionen können Institutionen
nicht leben, aber sie können auch an ihren Ordnungen eingehen. Wenn
die Stabilität in Versteinerung übergeht, wenn sich die Interessengegensätze
so verfestigen, daß die Ziele einer Institution nicht mehr sichtbar
sind, dann muß man nach dem Geist rufen, wie der Apostel in diesem
zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth. Diesmal war es nicht die überströmende
Begeisterung, die ihm Sorgen machte, sondern das Beharren einzelner auf
dem Buchstaben des Gesetzes.

Der Geist aber, der aus dem versteinerten Buchstaben des Gesetzes Funken
schlägt, lässt sich nicht herbeizwingen, man kann nur auf ihn
warten, auf ihn hoffen, und ihm den Weg zu bereiten versuchen, herbeizwingen
kann man ihn nicht, wie man keine gute Idee für eine Predigt herbeizwingen,
sondern nur darüber nachsinnen und nach guten Einfällen suchen
kann; wie man keine Kompromissformel für einen Streit auf eigene
Faust finden kann, sondern nur im Hören auf die Parteien und im Hoffen
auf eine gute Eingebung.

Nun kann man aber im Alltag nicht ewig warten auf die Erleuchtung, auf
den Geistesblitz; deshalb braucht der Buchstabe des Gesetzes den Schriftgelehrten,
den Juristen oder den Theologen, die Theologin, die den harten Buchstaben
des Gesetzes verfeinern, zerkleinern, das Gesetz von Fall zu Fall anwenden.

Es gehört zu den Pflichten der Schriftgelehrten, daß Sie Geist
und Buchstaben unterscheiden, den Buchstaben gegen einen allzu bewegten
Geist schützen, also die Gesetze und ihre Ordnung hüten, und
zugleich die Versteinerung der Ordnung zu hindern versuchen.

Liebe Gemeinde,
Paulus war, bevor er Apostel wurde, ein junger Schriftgelehrter, einer
der den Buchstaben des Gesetzes kannte und ihn von Fall zu Fall anzuwenden
versuchte, vielleicht noch etwas schülerhaft, mal holzschnittartig,
mal etwas fanatisch-überschwänglich, aber immerhin einer, der
die steinern Tafeln des Gesetzes kannte, – aber nicht nur diese, sondern
auch die vielfältigen Auslegungen, die diese Tafeln überwuchert
hatten wie Efeu eine Grabplatte. So hatte er gelebt und gewirkt mit dem
guten Gewissen eines verantwortungsbewussten Fachmannes, eines professionellen
Juristen, – offenbar auch in der Strafverfolgung, anerkannt von seinen
Lehrern, die in ihm einen hoffnungsvollen Nachwuchsgelehrten sahen, –
bis ihm die Einsicht eröffnet wurde, daß auch das Recht der
Väter in der üblichen Auslegung an eine Grenze gerät. Er
erfuhr in seiner Begegnung mit Gott, daß Gottes Geist nicht auf
die steinernen Tafeln des Gesetzes schreibt, sondern sich in den Herzen
der Menschen auswirkt.

Es bleibt ein Geheimnis, wie sich sein Horizont weitete, wie er
zu seiner Neubewertung der Gesetze kam, aber es muß kein Rätsel
bleiben und ein unerklärliches Wunder muß es auch nicht gewesen
sein:

Vielleicht hat Paulus nur besonders tief und gründlich nach dem
Sinn der alten Gebote Gottes gefragt, nach der Erfüllung der Gesetze
seines Volkes, nach einer Kraft oder einer Tat, die alle einzelnen Auslegungen
zusammenfasst: „So ist denn die Liebe des Gesetzes Erfüllung“.

Vielleicht ist er auch zu dieser neuen, umfassenderen Sicht durch kulturelle
Einflüsse gebracht worden: Er stammte ja aus Tarsus, also nicht aus
dem Kernland Israels, er hatte in der Nordostecke des Mittelmeers gewiß
verschiedene kulturelle Eindrücke empfangen und versuchte diese miteinander
zu vereinbaren. Er war ja schon immer unterwegs zwischen Jerusalem und
dem römischen Weltreich, vielleicht hat ihn der Eindruck der römischen
Weltmacht dazu gebracht, nach den Bedingungen zu fragen, unter denen das
Gesetz Israels würde weiter wirken können, lebendig wirken,
wie ein Herz schlägt …

Vielleicht hatte ihn auch der Rabbi Jesus beeindruckt, gerade weil er
nicht die offizielle Linie seiner – des Paulus – Lehrer vertrat. Mußte
nicht einem jungen, modernen, aufgeschlossenen Gelehrten auffallen, daß
Jesus die alten Gebote nicht verwarf, sondern verbesserte: „Der Sabbat
ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbat willen.“
– und: Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist …

Vielleicht hat er auch mit Freunden gelitten, die mit den alten Auslegungen
des Gesetzes nicht zurecht kamen, die möglicherweise mit einer Frau
trauerten, deren Freundin wegen Ehebruchs gesteinigt worden war …

Wie immer, seine Augen waren geöffnet worden für eine neue
Sichtweise, für eine neue Deutung der Gebote. Er konnte gar nicht
mehr anders denken, wenn er an die Gebote dachte, er konnte sie nur noch
als Einladung zur freien Verantwortung lesen, – „Du sollst nicht
töten, ist kein Gebot, sondern eine Einladung!“ (S. Lec).

So setzen auch wir uns mit den Geboten auseinander, die unser Leben beschützen
und beschränken, suchen in ihnen nach dem Funken des Geistes, der
aus der Ordnung Phantasie sprühen läßt, die die Ordnung
nicht aufhebt, sondern in neuem, ganz anderem Licht erscheinen lässt.
„Du sollst nicht töten!“ – ist eine Einladung zu einem
Leben unter Verzicht auf Gewalt und Rache. Die Freiheit dieses Lebens
muß man erst entdecken.

Wären solche Entdeckungen einfach und selbstverständlich, bräuchte
man nicht darüber reden; wären sie nicht aussichtsreich und
verheißungsvoll, lohnte die Mühe nicht, sich danach umzusehen.
So wünschte ich mir für das Arbeitsamt Leute, die sich nicht
an die Bestimmungen klammern müssen, und für die Kirchenordnung
wünsche ich mir Ausleger, die die Ordnungen gut kennen, sie aber
mit weitem, freiem Geist auslegen.

Liebe Gemeinde!
In der nächsten Woche beginnt in vielen Universitätsstädten
das Wintersemester. Einige – vielleicht nur wenige – Studenten werden
mit dem Theologiestudium beginnen. Wir Lehrer, die wir als Schriftgelehrte
ausgebildet sind, werden uns darum bemühen, sie auf ihre Aufgabe
vorzubereiten: Dass sie lernen Geist und Buchstabe in den verschiedenen
Lebenslagen und -fragen zu unterscheiden und den Gemeinden, in denen sie
tätig werden, bei dieser Unterscheidung zu helfen, wenn es z. B.
darum geht, eine Lösung für die Beteiligung am Abendmahl zu
finden, die die Gemeinschaft der Familien unterstützt und die Vorbehalte
anderer Gemeindeglieder achtet, oder wenn darüber entschieden werden
muß, zu welchen Zwecken ein Gemeindehaus genutzt werden darf oder
ob ein evangelischer Kindergarten eine muslimische Erzieherin anstellen
darf, – oder was der Fragen und Anfragen mehr sind.

Die Unterscheidung von Geist und Buchstabe ist aber in der evangelischen
Kirche nicht nur eine Sache der Fachleute für die Auslegung der Tradition,
sie können und sollen Helfer und Lehrer sein, die Erfahrung aber
kann jeder machen: Wie jeder Mensch eine schematische Auslegung von Geboten
und Ordnungen in seinem Alltag vielfach erfährt und damit zu kämpfen
hat, oder selbst auf sein Recht pocht, so kann auch jede und jeder die
Wirkungen des Geistes in seinem Leben spüren, wenn das Vorrechnen
und Aufrechnen von Leistungen ein Ende hat, wenn sich die ängstliche
Sorge um das Eigene, um Interessen und Besitz, wenn sich Rechthaberei,
wandelt zur Freude am Gemeinsamen, an den Früchten der Zusammenarbeit,
– oder wenn der festgefahrene Wagen des persönlichen Lebens von anderen
mit freigeschoben wird, rückwärts zunächst, aber dann auf
neuer Spur vorwärts, allein hätte man das kaum geschafft.

Wir bitten in jedem Gottesdienst und in jedem Gebet um den Geist und
die Kraft, die Spannung zwischen Geist und Buchstaben in unserem Leben,
da wir sie nicht aufheben können, so zu tragen, daß die Güte
Gottes an uns ablesbar wird, als seien wir ein Brief Christi an die Menschen,
eine Einladung zum Leben im Geist der Güte.

Amen.

Lieder:

404, 1-4 u. 6 Herr Jesu, Gnadensonne –
432 Gott gab uns Atem, damit wir leben –
677 (EG, Rheinische Ausgabe):

Die Erde ist des Herrn. Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.
Drum sei zum Dienst bereit, gestundet ist die Zeit, die uns gegeben.

Gebrauche deine Kraft. Denn wer was Neues schafft, der lässt uns
hoffen.
Vertraue auf den Geist, der in die Zukunft weist. Gott hält sie offen.

Geh auf den andern zu. Zum Ich gehört ein Du, um Wir zu sagen.
Leg deine Rüstung ab. Weil Gott uns Frieden gab, kannst du ihn wagen.

Verlier nicht die Geduld. Inmitten aller Schuld ist Gott am Werke.
Denn der in Jesus Christ ein Mensch geworden ist, bleibt unsre Stärke.

 

Zur Situation:

Die Predigt ist als Gruß für eine befreundete Kollegin geschrieben,
die am 13. 10. in ein kirchliches Leitungsamt eingeführt wird; außerdem
werde ich sie am 17. 10. in einem Gottesdienst zum Semesteranfang im Adolf-Clarenbach-Wohnheim
in Bonn halten; für diesen Anlaß habe ich die Lieder ausgewählt.

Mindestens der Schlussteil müsste auf die jeweilige Gemeindesituation
hin konkretisiert werden. Überhaupt bietet sich die Spannung von
„Geist und Buchstabe“ als hermeneutischer Schlüssel für
das „Christsein im Alltag der Welt“ an.

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost
E-Mail: r.schmidt-rost@uni-bonn.de

 

 

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