Apostelgeschichte 3, 1-10

Apostelgeschichte 3, 1-10

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


12. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2000
Predigt über Apostelgeschichte 3, 1-10,
verfaßt von Christoph Lang


Liebe Gemeinde in N.,

das ist schon ein verrücktes Ding, das ich da erlebt habe.
Und nun soll ich Ihnen davon erzählen. Ich will’s versuchen. Naja,
ehrlich gesagt bin ich mir gar nicht sicher, ob ich nicht vielleicht
geträumt habe. Ich bin Tempeldiener, und manchmal wird mir schwindelig,
und dann muß ich mich schnell hinsetzen. Ach so, Entschuldigung, Jonathan
ist mein Name. Ja, seit vielen Jahren schon tue ich meinen Dienst, und da
erlebt man so allerhand. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen…
Aber Sie wollen ja meine Geschichte hören, und ich habe wohl nur eine
Viertelstunde Zeit, hat man mir gesagt.

Also, das, liebe Leute, das war doch irgendwie etwas ganz
Außergewöhnliches, so etwas habe ich noch nie erlebt! Ich hatte
gerade meinen Dienst beendet, wir wechseln uns im Schichtdienst ab. Um 14 Uhr
endet meine Frühschicht. Wir haben das erste Brandopfer bei
Morgenröte darzubringen, und dann gibt es allerhand zu tun im Tempel, bis
die Ablösung kommt. Die Spätschicht übernimmt dann das zweite
tägliche Brandopfer, wissen Sie, das einjährige Lamm wird da
geopfert, immer um drei Uhr mittags. Und um die Zeit stehen wir – die
Tempeldiener von der Frühschicht – meist noch so ein wenig herum, man
trifft sich und diskutiert über Gott und die Welt.

Manchmal kommen dann auch Fremde dazu, und die bringen meistens
interessante Neuigkeiten. Reisende aus aller Welt, die in der Stadt Jerusalem
anbeten wollen. Die machen gerne mal einen kleinen Handel vorher, oder man
hört von den neuesten Plänen der Herren Politiker. Und natürlich
sieht man auch allerhand kleines Volk, Arme, Bettler, Obdachlose… Glanz und
Elend so nah nebeneinander, da wünscht man sich manchmal schon eine kleine
Revolution. Unser einer lebt ja nicht schlecht als Tempeldiener, doch es gibt
zu viele, denen es so dreckig geht, um die sich keiner kümmert in diesen
Tagen.

Jedenfalls unterhielt ich mich gerade mit meinen Kollegen von der
Frühschicht, als zwei Wanderprediger plötzlich für Aufruhr
sorgten. Das gibt es ja immer wieder im Tempelbezirk, und es war schon das
erste Wunder, daß die Tempelwache nicht sofort eingegriffen hat. Aber die
waren auch wie gelähmt, die Tempelpolizisten, als sie sahen, was da
geschah.

Am sog. „Schönen Tor“, das von Osten her, vom Vorhof der
Heiden in den Frauenvorhof führt, an diesem „schönen Tor“ saß
ein stadtbekannter Bettler, eine jämmerliche Gestalt, gelähmt seit
seiner Geburt. Wir nannten ihn immer nur den „Heuler“, zugegeben ein böser
Spitzname, aber es stimmte: er sah zum Heulen aus, und er jammerte tagein
tagaus. Mit ihm gaben sich plötzlich zwei Fremde eine ganze Zeit lang ab.
Einer von den beiden gab ihm die rechte Hand. Und richtete ihn auf. Menschen
standen drum herum. Die Tempelpolizei blickte argwöhnisch hinüber,
griff aber nicht ein. Jubel machte sich breit, Geschrei und fröhliches
Singen.

Und dann sahen wir alle das Wunder: Der „Heuler“, der
Gelähmte hüpfte umher wie ein junges Reh, er tanzte, klatschte in die
Hände, und das Volk, das dabei stand, klatschte und jubelte. Und dann
zogen sie gemeinsam, diese beiden Wanderprediger, und der „Heuler“, der geheilt
war von seiner Lähmung, hinein in Richtung Tempel, um bei der Darbringung
des Mittagsopfers mitzubeten.

Auch wir liefen hinterher, neugierig, was da gerade abgeht: Ein
Mensch, der seit seiner Geburt gelähmt war, konnte gehen, stehen, tanzen
und springen! Mir wurde wieder schwindelig, aber ich war hell wach. Wir gingen
dahin, wo jetzt alle zusammenliefen, und fragten andere: Sagt mal, was wird
hier eigentlich gespielt?

Eine junge Frau antwortete: „Kennt Ihr nicht Petrus und Johannes,
die beiden Wundertäter, die dem Nazarener nachfolgen?“ Gehört hatte
ich von diesen „Christen“, aber daß die auch Wunder tun, das war mir neu.
Ich wußte nur, daß Jesus von Nazareth gekreuzigt worden war, und
daß seine Jünger glaubten, er sei auferstanden.

Aber die Menge hier schien eher an Petrus und Johannes zu glauben.
Und auch ich gestehe, daß mich diese beiden Wundertäter
faszinierten. Ein anderer erzählte: „Habt Ihr das gesehen? Petrus und
Johannes haben den „Heuler“ geheilt! Petrus hat ihm die rechte Hand
hingestreckt, ihn auf die Füße gestellt und aufgerichtet. Er, der
zeit seines Lebens Gelähmte ist geheilt! Das gibt es doch gar nicht!“

Auch ich dachte zuerst bei mir: Das gibt es nicht. Da muß
ein Trick dabei sein. Doch eine andere Frau sagte: „So hat es Petrus gesagt:
Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen
Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! Das hat er gesagt!“

Im Namen Jesu Christi von Nazareth… In diesem Namen mußte
eine besondere Kraft stecken, ein Geheimnis. Und ich dachte bei mir: Vielleicht
können die auch mich heilen mit meinen Schwindelanfällen. Mich, den
alten Jonathan, Tempeldiener seit über dreißig Jahren, ob sie
für mich auch einen Handschlag übrig hätten?

Doch ich kam gar nicht dazu, mich ihnen vorzustellen. Das zusammen
gelaufene Volk scharte sich um die beiden Helden, und ich hatte keine Chance.
Allerdings hörte ich dann etwas, was mein Leben doch verändert hat.
Petrus, einer der beiden Wanderprediger, fing plötzlich mitten im
Getümmel an zu predigen. Das, liebe Leute, hat mich wirklich umgehauen. Es
hat mein Leben radikal neu gemacht. Neben Petrus stand der „Heuler“, der
geheilt war, mit einem Strahlen im Gesicht, wie es kein Mensch für
möglich gehalten hätte. Petrus deutete in wenigen Worten, was da eben
gerade geschehen war. Und das Volk wurde mucksmäuschenstill. „Ihr
Israeliten“, fing er in ruhigem Ton an, „was wundert Ihr euch über die
Heilung? Was starrt Ihr uns beide an, als ob wir mit eigener Zauberkraft oder
geistiger Gewalt bewirkt hätten, daß der Gelähmte wieder gehen
kann?

Vielmehr hat der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott
unserer Väter, seinem Sohn Jesus Macht von seiner Macht und Glanz von
seinem Glanz verliehen. Ihr kennt ihn“, sprach Petrus behutsam weiter, „Ihr
habt ihn einst den Römern ausgeliefert und Euch von ihm losgesagt, als
gehörte er nicht zu Euch, während Ihr vor Pilatus standet, als
Pilatus gerecht über ihn urteilte und ihn freilassen wollte. Ihr aber
wolltet den Heiligen und Gerechten nicht haben und batet den Pilatus, er
möge euch einen Mörder schenken, Barrabas.“

Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Wie recht Petrus hatte
– es war eine Schande gewesen, und wir waren alle wie gelähmt in
diesem Prozeß des Jesus von Nazareth. Doch Petrus fuhr fort: „Den Urheber
des Lebens habt Ihr umgebracht, Jesus Christus, doch Gott war es, der ihn
lebendig machte. Dafür stehen wir hier als Zeugen.“

Mein Schwindelgefühl nahm wieder zu. Ich spürte: Hier
ist etwas ganz Besonderes passiert. Diese beiden Männer heilen nicht in
ihrem eigenen Namen. Diese beiden sind im Auftrag des auferstandenen Jesus
unterwegs. Und Petrus fügte dem allem hinzu: „Dieser Gelähmte, den
Ihr seht und kennt, wurde geheilt im Namen Jesu Christi. Christus selbst, der
Auferstandene, hat diesem die Kraft gegeben, sich aufzurichten, wieder aufrecht
zu stehen und wieder gehen zu können.“

Petrus redete noch weiter, aber bei mir war der Groschen
längst gefallen. In mir hörte ich eine Stimme sagen: Jonathan! Im
Namen Jesu Christi, des Auferstandenen, ist Heil und Rettung. Dieser Jesus lebt
und hat Kraft, Menschen das Heil zu bringen. Er ist der verheißene
Messias! Ich wurde ergriffen von einer tiefen Freude und einem inneren Frieden.
Ich ging in den Tempel und dankte Gott. Ich bat Gott auch, daß er mir im
Namen Jesu Christi diesen unberechenbaren Schwindel wegnehmen möge.

Als ich gegen fünf Uhr aus dem Tempel kam, war niemand mehr
zu sehen. Einer der Tempelpolizisten, den ich kannte, erzählte mir,
daß sie Petrus und Johannes verhaftet hatten. Also doch, dachte ich. Und
mein Schwindelgefühl war auch noch da. War alles nur ein Traum? War das
alles nur Einbildung, daß da einer, der sein Leben lang gelähmt war,
plötzlich ein neues Leben anfangen konnte? Ich war ziemlich durcheinander.

Auf dem Vorhof der Heiden fand ich dann andere Christen, die mich
in ihre Hausgemeinde einluden. Einfache und Gebildete, Arme und Reiche. Alle
sind sie unterwegs, um Jesus Christus nachzufolgen. Hier gilt kein Ansehen der
Person. Natürlich haben alle ihre Ecken und Kanten. Aber: Sie alle leben
aus der Vergebung der Liebe Gottes. Das hat mich besonders beeindruckt.

Ich bin seitdem regelmäßig mit ihnen zusammen, wir
studieren die alten Schriften und entdecken darin die Verheißungen
Gottes, wie sie in Jesus von Nazareth erfüllt sind. Wir beten auch
für den Dienst der Apostel, und: wir teilen alles, so gut es geht,
miteinander. Unser Geld, unser Essen, die Freude und das Leid werden geteilt.
Ich tue weiter meinen Dienst im Tempel, und mein Schwindel ist noch nicht ganz
verschwunden.

Aber ich habe jetzt gefunden, wonach ich solange gesucht habe:
Mein Leben hat eine neue Mitte, eine Basis, ein Ziel. Ich vertraue Jesus
Christus. Und bin immer noch Tempeldiener. Und bin es gerne. Ich ehre den Gott
Abrahams, Isaaks, und Jakobs, den Gott der Väter, daß er uns in
Jesus Christus das Leben geschenkt hat.

Und Ihr, liebe Leute, wie steht’s mit Euch? Was könnte
meine Geschichte für Euch bedeuten?

Mir ist immer noch lebhaft in Erinnerung, daß die Heilung
des Gelähmten nur durch einen Händedruck geschah. Ein einziger
Händedruck veränderte das Leben des „Heulers“. Ein einziger
Händedruck kann auch heute Heilung bringen, Menschen verändern,
Versöhnung ermöglichen. Darum erzähle ich diese Geschichte bis
heute.

Mir fällt auf, daß Ihr und Eure Kirche manchmal wie
gelähmt wirkt. Mir fällt auf, daß heute wie damals Christen oft
genug nicht weiter wissen. „Silber und Gold habe ich nicht!“ Ein höchst
aktueller Satz auch in Euren Kirchen! Wir wissen an vielen Stellen nicht
weiter, wahrlich. Denn gerade das, was wir der Welt als das wirkliche und
einzige Heilmittel anbieten können, das können wir eben nur anbieten,
wir können nicht darüber verfügen. Gott allein tut Wunder –
wir können sie nicht machen. Dennoch: Die Kirche gleicht dem lahmen
Menschen, zu dem das Wort Gottes gekommen ist. Das Wort Gottes kommt zu dem
lahmen Menschen, ihn aufzurichten, zu tragen, in Bewegung zu setzen, ihn zu
seinem Eigentum zu machen. Das Wort mit dem Lahmen, das ist die Kirche –
mit dem Lahmen, der kein Held, kein Weiser, kein Großer ist; aber der
gehen kann, der Gott loben kann und es auch tut.

Wir wissen nicht weiter. Petrus sagt es am Ende seiner Predigt so:
„Tut Buße und bekehrt euch!“

Ich, Jonathan, habe diese Geschichte erzählt, damit Ihr
umkehrt, Hoffnung und Mut bekommt für Euer Leben und für Eure Kirche.
Manchmal reicht ein längst fälliger Händedruck in Deiner
Nachbarschaft aus, damit ein Wunder geschieht zwischen zwei Menschen. Und im
Blick auf die Kirche gilt: Der Glaube an Jesus Christus, den Gekreuzigten und
Auferstandenen, macht Lahme gehend. Unserer Kirche, wenn sie lahm geworden ist,
weil sie zu sehr auf Gold und Silber vertraut hat, macht diese Geschichte,
macht dieser Glaube Beine: „Steh auf und geh umher!“

Amen.

Pfarrvikar Christoph Lang, Tannenweg 14, 74821
Mosbach-Neckarelz
Fon 06261/35652.
eMail: LangCh@aol.com


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