Weihnachtsmärchen

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Das Märchen vom lächelnden Weihnachtsmann Jonathan | Weihnachten 2022 | Wolfgang Vögele |

Auf der Erde und im Himmel herrschte dicke Luft. Es lag daran, daß wegen der globalen Erwärmung die Fußbodenheizung im Himmel ständig auf höchsten Temperaturen lief. Engel und Weihnachtsmänner hatten die Strümpfe ausgezogen und verbrannten sich trotzdem beim Barfußlaufen die Zehen.

Gott störte sich nicht nur an der Heizung. Er störte sich an den Menschen. Daß sie dauernd Krieg führten, machte ihm schlechte Laune. Und dazu kamen der Hunger, die Bürokratie, die Pandemie, der CO²-Ausstoß. Auf der Erde schien nichts in Ordnung, und die Menschen gaben sich nach seiner Ansicht keine Mühe, die Verhältnisse nur ein wenig zu verbessern. Gott überlegte, bei der nächsten Sitzung den leitenden englischen Managern vorzuschlagen, in diesem Jahr das Weihnachtsfest abzusagen. Gerüchte darüber waren schon in die größte Himmelsabteilung durchgesickert, die Zentralabteilung für Weihnachtsgeschenke. Die Aussicht, in diesem Jahr nicht die Rentiergespanne anschirren zu können, schlug allen Weihnachtsmännern aufs Gemüt. Viele von ihnen konnten sich nicht überwinden, wie jedes Jahr den Bart zu stutzen oder die roten Mäntel wieder vom Ruß aus den Kaminen zu befreien.

Der Erzengel Gabriel leitete die himmlische Abteilung für Weihnachtsgeschenke. Der Erzengel Gabriel bildete sich viel darauf ein, daß er es war, der vor zweitausend Jahren der Jungfrau Maria die bevorstehende Geburt des Jesuskindes hatte verkündigen dürfen. Und er war stolz, daß er das verschlafene Bethlehem ohne Navi und Heiligen Geist gefunden hatte. Als Verkündigungsengel fand er es nur angemessen, daß er nun die größte Himmelsabteilung leitete. Und er ließ das gelegentlich seine Abteilungsleiter mit milder Herablassung spüren.

Die himmlische Zentralabteilung für Weihnachtsgeschenke war aufgeteilt in sieben Hauptabteilungen, jede einzelne geleitet von einem erfahrenen Engel mit langer Geschenkverteilungspraxis. Abteilung 1 für Rentierzucht und Schlittenreparatur, Abteilung 2 für Geschenkeauswahl, Abteilung 4 für Geschenkpapier und Schleifen, Abteilung 5 für Weihnachtskarten. Abteilung 6 zur Steigerung der Weihnachtsstimmung. Abteilung 3, früher zuständig für die Produktion und Verteilung von Lametta, war aus umwelttechnischen Gründen aufgelöst worden. Auch im Himmel waren Bleistreifen giftig.

Für die Auslieferung der Geschenke waren zumeist erfahrene Weihnachtsmänner zuständig. Zwischen ihnen und den Engeln kam es regelmäßig zu Konflikten; Führungskultur und Arbeitsmoral paßten nicht zusammen. Weihnachtsmann war ein himmlischer Ausbildungsberuf, der in einem dualen Studium, sechs Semester Fachhochschule, dazu gründliche Berufspraxis, erlernt wurde. Die himmlische Hochschule für Geschenkvertrieb (Doppel-H.F.G) war bekannt dafür, daß an ihr die renommiertesten Professoren im Kosmos Vorlesungen über Geschenkeauswahl hielten.

Kurz: Der Himmel bestand aus einem riesigen jauchzenden und jubelnden bürokratischen Apparat, der jedes Jahr im Advent in großen Stress geriet und es dennoch jedes Mal schaffte, Tausende von Geschenken an Kinder und Erwachsene aller Länder auszuliefern. Aber in diesem Jahr sah es eben sehr schlecht aus. Die trübe Lage auf der Erde verbreitete im Himmel überall schlechte Stimmung, Motivations- und Frustrationsprobleme. Der Doktorengel in der psychologischen Praxis gähnte, weil sich kein Weihnachtsmann wegen Burnout behandeln lassen mußte.

Alle Weihnachtsmänner und sehr viele Engel waren melancholisch geworden – mit einer Ausnahme. Ganz hinten, wo die himmlische Bauherrlichkeit in einen Slum überging, lebte ein sehr kleiner, schrumpeliger Weihnachtsmann mit dem Namen Jonathan. Aus alten Weihnachtsbäumen und Adventskranzschleifen hatte er sich einen Verschlag gezimmert. Sein Rauschebart war noch nicht lang genug: Er durfte noch nicht mitfahren auf den Geschenkekutschen mit den Doppelkufen. Ihm fehlte außerdem die Bachelorarbeit im Geschenkeverteilen. Sein Vater, ebenfalls Weihnachtsmann, hatte ihn nie gut behandelt, hatte ihn stets seinen Griesgram spüren lassen.

Irgendwann hatte Jonathan beschlossen: Das mache ich anders. Er war deshalb der einzige, der sich von der verbreiteten schlechten Stimmung nicht anstecken ließ. Das brachte ihm Probleme ein. In diesem Jahr eckte er mit seiner fröhlichen und freundlichen Art an. Wenn er grüßte, dann schauten die anderen Weihnachtsmänner weg. Wenn er jemandem die Hand schütteln wollte, wandte dieser sich ab. Die Engel, die ihn kommen sahen, drehten sich um, um sich nicht von seinem Lachen anstecken zu lassen. Er wurde verdächtigt, heimlich von den Zimtsternen genascht zu haben. Andere zeigten ihn bei der himmlischen Betriebsleitung an und verlangten, daß er für die Dauer des Advents auf einen einsamen Planeten verbannt werde, nur mit Glühwein und Christstollen. An Jonathan prallten all diese Versuche ab, ihm zu schaden. Er ließ sich in seiner Freundlichkeit von niemandem beirren. Er bot sich sogar an, in diesem Jahr die Bescherung bei der deutschen Fußballnationalmannschaft und ihrem Trainer zu übernehmen. Auch das lehnte der Erzengel Gabriel brüsk ab. Das wäre ja noch schöner, wenn ein Weihnachtsmann ohne Examen solch eine schwere Aufgabe übernehmen würde.

Die Adventszeit begann. Der gewaltige himmlische Apparat setzte sich träge in Bewegung. Um den 9.Dezember herum passierte etwas. Die himmlischen Heerscharen konnten nicht mehr ignorieren, daß ihnen stets ein kleiner, schrumpeliger Weihnachtmann mit einem Lächeln im Blick und einem Adventslied auf den Lippen entgegenkam. Und es war wie bei dem Schmetterling in Spanien, dessen Flügelschlag ein Gewitter in China verursachte. Diese Regel galt auch im Himmel: Langsam verbreitete sich dieses kleine Lächeln weiter, und die Stimmung im Himmel veränderte sich, zuerst sehr langsam, dann immer schneller und raumgreifender. Die Spezialistenengel aus der Abteilung 6, Verbesserung der Weihnachtsstimmung, kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der kleine Weihnachtsmann Jonathan schafft es, mit Lachen und Singen und Freundlichsein den ganzen Himmel vom Kopf auf die Füße zu stellen? Die Seraphim und Cherubim, die im göttlichen Thronsaal Dienst taten, verbreiteten Gerüchte in die unteren Abteilungen, nach denen selbst die schlechte Laune Gottes in Auflösung begriffen war. Irgendein Engel, der im irdischen Leben Bundespräsident gewesen war, sprach von einer Ruckrede. Der Engel in der Psychologenpraxis redete von einem Wunder, das psychoanalytisch nicht zu erklären sei.

Der Erzengel Gabriel berief eine Sondersitzung der Weihnachtsgeschenke-Abteilung ein. Der schrumpelige Weihnachtsmann Jonathan mußte vor den Abteilungsleitern Rede und Antwort stehen. Viel hatte er nicht zu sagen. Er war kein Intellektueller. Wieso soll ich nicht freundlich sein, fragte er. Und er sagte auch: Ich will mich nicht verbiegen lassen. Die Abteilungsleiter runzelten die Stirn: So etwas ist ja noch nie passiert. So haben wir es noch nie gemacht. Der Chef, der sehr ehrwürdige Erzengel Gabriel, hatte einen lichten Moment: Damals, als ich die junge Frau Maria suchte, habe ich sie auch mit englischer Freundlichkeit überzeugt. Er wandte sich also an seine Kollegen: Wir machen es so, wie der weihnachtliche Kollege es sagt. Wir bleiben freundlich. Wir verteilen Geschenke. Wir reden über Barmherzigkeit und Frieden. Wir hoffen, daß die Menschen ein Einsehen haben. Bitte, meine Damen und Herren, Sie wissen, was Sie zu tun haben. Und zum Weihnachtsmann Jonathan sagte er: Du darfst in diesem Jahr auf dem großen Schlitten mitfahren. Du wirst Geschenke in der Ukraine und in Moldavien verteilen und den Kindern dort eine besondere Freude machen. Die Nationalmannschaft übernehme ich aber doch lieber selbst.

An diesem Abend ging der Weihnachtsmann Jonathan sogar lächelnd schlafen. Zwei Wochen später saß er auf dem Schlitten, zusammen mit einem älteren Kollegen, und er durfte sogar die Zügel für die Rentiere halten, nur nicht beim Abbremsen vor dem Eintritt in die Erdatmosphäre.

Die Menschen erinnerten sich noch Jahre später daran, daß sie an diesem Weihnachten von den Geschenken besonders beglückt waren und die Weihnachtslieder um so fröhlicher mitgesungen hatten. Und sie nahmen sich vor, etwas zu tun, als sie die alten Worte aus der Weihnachtsgeschichte hörten: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!


Prof. Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com


Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).

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