Die kleinen Gesten, die alles ändern

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Die kleinen Gesten, die alles ändern

Predigt zu Mt.11,25-30 | von Sabine Handrick|

 

In jenen Tagen ergriff Jesus das Wort und sprach:

Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde,

dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen,

es Einfältigen aber offenbart hast.

Ja, Vater, so hat es dir gefallen. 

Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater,

und niemand kennt den Sohn außer der Vater,

und niemand kennt den Vater außer der Sohn und der,

dem der Sohn es offenbaren will.

Kommt zu mir, all ihr Geplagten und Beladenen:

Ich will euch erquicken.

Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir,

denn ich bin sanft und demütig;

und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. 

Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht.   (Zürcher Bibel)

 

 

Liebe Gemeinde, liebe Trauerfamilien!

 

Wenn wir eines Tages zurückschauen auf jene ersten Monate des Jahres 2020, woran werden wir uns dann erinnern? Welche Gefühle werden auftauchen?

Wird da wieder der Schmerz um unsere Liebsten sein, von denen wir Abschied nehmen mussten? Und der bittere Nachgeschmack, dass wir bei der Trauerfeier die tröstende Nähe einer grossen Gemeinde entbehren mussten?

So ohnmächtig und ausgeliefert zu sein, war für Viele etwas ganz Neues.

Unsere selbstverständlich erscheinende Sicherheit und die Freiheiten – gekappt.

Angst und Ungewissheit liessen uns nicht los. Was kommt da auf uns zu?

Als die Infektionen Düdingen erreichten, wuchsen unter uns die Sorgen.

Existentielle Fragen liessen den Boden unter unseren Füssen wanken.

 

Meine Lieben, was wird uns bleiben aus diesen drei Monaten Covid19-Lockdown?

Bewahren wir das erleichterte Aufatmen der Davongekommenen, froh, dass die schlimmsten Befürchtungen nicht eingetroffen sind und uns Situationen wie in Bergamo, New York oder Brasilien erspart blieben?  Sind wir dankbar, dass wir gehen und stehen, atmen und schauen, essen und trinken können, ein Dach über dem Kopf haben?

Vielleicht wird sich die Erkenntnis durchsetzen, wie wenig es ist, was Du wirklich brauchst:

Menschen, die dich lieben, die dir vertrauen, die dich er-tragen und mittragen, sind das Kostbarste. Nichts kann echte Begegnungen und Beziehungen ersetzen.

Glücklich ist, wer Familienbande hat, die halten und ein soziales Netz, das auffängt.

 

Die Dichterin Mascha Kaléko sagt:

»Man braucht nur eine Insel

Allein im weiten Meer
Man braucht nur einen Menschen,

den aber braucht man sehr.«

Wir können es uns nicht vorstellen, diesen einen Menschen zu verlieren. Doch dann irgendwann kommt der Tag und der Tod klopft an die Tür. Der Verlust zwingt uns in die Knie und wirft uns zu Boden. Es ist eine Last, die sehr schwer ist.

 

Jesus hebt uns auf und sagt: Kommt her zu mir – alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken. – Ich will euch die Last abnehmen, ich will euch ausruhen lassen. – Ich werde euch Ruhe geben.

Ich spüre Erleichterung, wenn ich diese Worte höre. Sie wirken wie eine Umarmung. Ich sehe sie geradezu vor mir: die weit geöffneten Arme, die einen liebevoll auffangen und das tosende Meer der inneren Unruhe zum Schweigen bringen. –

Es gibt diesen Ort, wo unsere Seele Zuflucht hat. Vergessen wir das nie. Und Jesus zeigt den Weg dorthin, er sagt: Vertraut euch meiner Leitung an, und lernt von mir, denn ich gehe behutsam mit euch um und sehe auf niemanden herab. Wenn ihr das tut, dann findet ihr Ruhe für euer Leben.1

 

So einfach soll es sein? – Ja. Wir brauchen nicht viele Worte.

Manchmal ist es eine kleine Geste, die alles ändert.

Ich spreche nicht von Wundern, sondern von dem, was jede und jeder von uns tun kann.

Jesus zeigt, dass es möglich ist.  An ihm können wir es abschauen und lernen, diese sanftmütige Bereitschaft des Herzens zu entwickeln.

Sein Leben und Wirken machen sichtbar, wie das geht mit der Liebe und dem Vertrauen.

Wenn wir wie Jesus wagen, auf Gott zu vertrauen, nähern wir uns dem Geheimnis Gottes.

Denn Gott hat Jesus sein Herz geöffnet und ihm „Alles“ 2 offenbart – Wahrheit, Weisheit, den Willen Gottes. Vater und Sohn sind so eng miteinander verbunden, dass es ein Geist ist, der sie treibt.

 

Kommt zu mir! Jesu Einladung gilt dir und mir und jedem Menschen. Sie öffnet uns den Raum der Liebe und der Barmherzigkeit, der Versöhnung und des Friedens.

Große Worte, sage ich jetzt, ich gebe es zu.

Und wie geht das in der kleinen Münze des Alltags, mögt ihr euch fragen.

Jesus meint: Es ist eine Frage der (inneren) Haltung.Ich brauche keine Gewalt, und mein Herz ist nicht auf Herrschaft aus.“ 3 Man kann das alte Wort „demütig“ auch so übertragen:

Ich sehe auf niemanden herab.

 

Und das muss man erst mal schaffen. Das ist wirklich herausfordernd, meine Lieben.

Wer es schon mal mit gewaltfreier Kommunikation versucht hat, weiß, wie schwierig es ist.

Es ist ein Lernprozess, bei dem du immer wieder an deine Grenzen kommst.

Wer aber lernen will, in diesem Sinne demütig zu werden, um nicht auf Andere herabzuschauen, wird bereit zu verzichten auf Macht, Überlegenheit, Stärke, Gewalt.

Wer vom hohen Ross des eigenen Egos heruntersteigen kann, erkennt im Gegenüber einfach einen Menschen. Da ist eine oder einer mit der gleichen Würde und dem gleichen Lebensrecht wie du.

Und es völlig egal, ob sie oder er schlau ist oder reich, eingeschränkt oder arm, farbig oder jung, begabt, alt, weiß, behindert, dick, dünn, krank, schön, leistungsfähig, hilfsbedürftig oder Kind, Frau, Mann. –  Es ist ein Mensch wie du, ein geliebtes Kind Gottes.

Und du begreifst, dass deine Position oder deine Meinung immer nur ein Teil des Ganzen sind. Wahrheit beginnt, wenn zwei miteinander reden,

wenn sie bereit sind, einander zuzuhören,

sich auf die Sichtweise des Anderen einzulassen

und versuchen zu verstehen, was den anderen bewegt.

 

Liebe Gemeinde, gegenwärtig findet eine fast vergessene Geste der Demut weltweit wieder viele Nachahmer: Sie knien nieder. Das eine Bein ist angewinkelt, mit dem anderen knien sie am Boden.

Sie lassen ihre Körper sprechen und nehmen eine Haltung ein, aus der man auf niemanden herabsehen kann.

Auf diese Weise protestieren sie gegen Brutalität und Polizeigewalt. Black lives matter.

Drei Worte stehen für die Empörung darüber, was unzählige Menschen nichtweisser Hautfarbe tagtäglich durch Rassismus, Diskriminierung und Chauvinismus4 erfahren.

Entschlossen und kraftvoll knien sie auf dem Asphalt und senken den Kopf.

Wer das aushält, in spannungsgeladenen Situationen gewaltlos zu bleiben, der braucht eine gehörige Portion sanften Mutes! Und solche Zeichen wirken: Polizisten – manche in voller Montur und schwerbewaffnet – übernehmen die Haltung, folgen dem Beispiel der Demonstrierenden und knien ebenfalls nieder.

Ich möchte laut Halleluja singen.

 

In jenen Tagen ergriff Jesus das Wort und sprach:

Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, es Einfältigen aber offenbart hast.

Die Weisen und Klugen, die Experten und Meinungsführer sind diejenigen, die ihn gerade nicht verstehen und nicht verstehen wollen. Trotz ihrer Bildung und privilegierten Stellung können sie Jesus nicht folgen.

Jesus singt nicht das Lied der Mächtigen, sondern preist die Weisheit Gottes. Er lobt den Herrn des Himmels und die Erde und solidarisiert sich mit der großen Mehrheit der Menschen, den Vielen, den einfachen Leute, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.

Lassen wir uns von dem Begriff der ‚Einfältigen bzw. Unmündigen‘, nicht auf die falsche Fährte bringen, wenn dieser Bibelvers mitunter so übersetzt wird. Es geht hier um die Armen, die Hungernden, die sogenannten „kleinen Leute“. Ja, mitunter sind sie ungebildet und wissen nicht viel, aber es sind diejenigen, die nicht die Chance hatten, in privilegierten Kreisen zu leben. Sie sind deshalb nicht weniger wert. – Das ist das Neue in der Haltung Jesu: Er bringt ihnen Wertschätzung und Liebe entgegen.

 

„No justice – no peace.“ Ich habe ein kleines Mädchen vor Augen: Sie mag vielleicht 7 Jahre alt sein. Ein 15 Sekunden Twitter-Video5 dokumentiert, wie sie auf einer dieser aktuellen Demonstrationen mitläuft und diese vier Worte immer wieder mit großer Energie ruft: „No justice – no peace.“ –

Ohne Gerechtigkeit keinen Frieden. Diese kleine Person hat den grundlegenden Zusammenhang verstanden. Sie tritt dafür ein und ist weiser und wahrhaftiger als manch Erwachsener.

 

Jesus nimmt all die Menschen in den Blick, für die sich sonst kaum jemand interessiert,

die immer übersehen und übergangen werden,

die nicht zu Wort kommen, die Mitgemeinten und Sprachlosen,

alle, die sich Tag für Tag abmühen, um knapp zu überleben.

Sie gehören zu denen, die Jesus glücklich preist,

weil sie arm sind vor Gott und wissen, wie sehr sie Gott brauchen.

Glücklich nennt er auch diejenigen, die trauern und Leiden tragen,

die sanftmütig sind und sich um Frieden bemühen,

die barmherzig sind und mit dem reinen Herzen,

die nach Gerechtigkeit hungern und deshalb verfolgt werden.

Denen gehen die Augen auf und Viele merken, dass wahr wird, was die Propheten ankündigten: Blinde sehen, Unbewegliche stehen auf, Kranke werden heil an Leib und Seele, Aussätzige werden rein und Ausgestoßene kehren heim.

Sogar Tote stehen auf und die Armen „bringen einander die gute Botschaft. Sie handeln füreinander – nicht gegeneinander, nicht länger für …. die Reichen und Mächtigen, sondern für sich.“ 6

 

Es ist ein Prozess der Selbstwerdung, den Jesus anstösst. Die Gedemütigten richten sich auf und treten für ihr Recht ein.  Sie nehmen ihr Leben in die eigene Hand und werden zu mündigen, verantwortlich handelnden Menschen. Sie lassen sich von dem sanften Mut des Mannes aus Nazareth inspirieren.

Meine Last ist leicht“, sagte Jesus, obwohl ihm das Kreuz schwer wurde und der bittere Kelch nicht an ihm vorbei ging. Doch alle Erdenschwere und alles Leid fielen ab, als Gottes neue Wirklichkeit im Licht des Ostermorgen aufleuchtete.

Bernhard von Clairvaux drückt es so aus: „Das Kreuz Christi ist eine Last von der Art, wie es die Flügel der Vögel sind. Sie tragen aufwärts.

 

Meine Lieben, machen wir einander das Leben leichter und nicht schwerer.

Es sind die kleinen Gesten, die etwas bewirken, die uns aufrichten und uns helfen, schwere Zeiten besser zu ertragen.

Wir haben es in den hinter uns liegenden Wochen erlebt …  Ihr erinnert euch:

Wie schön waren die ersten Frühlingsblumen, die euch die Nachbarin vor die Tür stellte,

wie tröstlich die handgeschriebenen Zeilen der alten Freundin,

wie unverhofft das Klingeln des Telefons und das Gespräch, das dir wieder Auftrieb gab,

wie selbstverständlich die hilfreichen Handgriffe der Nachbarn,

wie solidarisch das Zuhause-Bleiben der Vielen,

wie unermüdlich die Pflegenden in den Spitälern und Pflegeheimen.  …

 

Wir tragen miteinander die Lasten des Lebens, damit die bedrückenden Probleme tragbarer, erträglicher, leichter werden.

Paulus hat es ganz ähnlich bei Jesus gelernt:

Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.7 – Amen

 

 

 

Pfarrerin Sabine Handrick

Düdingen, Kanton Freiburg, Schweiz

pfarramt@refdue.ch

 

Sabine Handrick, geb. 1965, ist seit 2010 Pfarrerin der Reformierten Kirchgemeinde Düdingen.

Neben dem Einzel- Pfarramt in Düdingen engagiert sie sich ehrenamtlich als Teamleiterin im Careteam des Sensebezirks (Notfallseelsorge).

Die Gottesdienste der Reformierten Kirchgemeinde, die während der Pandemie-Maßnahmen besonders von Trauerfamilien vermisst wurden, finden nun wieder mit anwesender Gemeinde statt. Auch auf sie richtet sich das Augenmerk der Predigt.

 

 

Kontexte:

 

Hanns Dieter Hüsch: zu Psalm 19 8

 

Herr

Ich will dich auch heute preisen

Und dir Dank sagen

Halleluja

Du schenkst mir wieder festen Boden

unter meinen zerbrechlichen Füssen

Auch wenn ich zu zweit oder mit vielen gehe

Bist du an meiner Seite

Manchmal atme ich schwer

und stolpere den Weg entlang und befürchte:

Du hast die Erde verlassen

Doch ich bin töricht

Denn dein ist die Welt

Dein sind Himmel und Erde

Das ist kein Zwischenraum

kein Unterschied

Keine Grenze

Und wenn wir gehen

gehen wir zum Himmel

Und wenn wir kommen

Kommen wir zur Erde

Und wenn wir auf der Erde straucheln

Hebst du uns auf in den Himmel

Denn Himmel und Erde

sind Bruder und Schwester.

 

 

Siph Amandla N’kosi Wokungesabi 9

 

  1. Sanftmut den Männern, Großmut den Frauen, Liebe uns allen, weil wir sie brauchen.
  2. Mut den Gejagten, Ehrfurcht den Starken, Frieden uns allen, weil wir ihn brauchen.
  3. Flügel den Lahmen, Lieder den Stummen, Träume und allen, weil wir sie brauchen.

 

Südafrikanische Melodie – Text: Gerhard Schöne: 1987

 

 

Lieder für den Gottesdienst:

  • Du bist mein Zufluchtsort 10
  • Sanftmut den Männern 11
  • Wer nur den lieben Gott lässt walten, RG: 681

besonders die 7. Strophe: Sing, bet‘ und geh auf Gottes Wegen

 

Quellen:

 

1 Mt.11,25 – Hoffnung für alle

2 Mt.11,27

3  Mt. 11,29 – Bibel in gerechter Sprache

4  Der Name des Polizisten, durch dessen Handlungen George Floyd starb, lautet Derek Chauvin.

https://twitter.com/ScottBrinton1/status/1268316436113612800

6  Luzia Sutter Rehmann, Wut im Bauch, Gütersloh 2014, S. 91

Gal. 6,2

Hanns Dieter Hüsch, Ich stehe unter Gottes Schutz, Düsseldorf 2005, S. 19

9 https://www.youtube.com/watch?v=iuFwmKbI0VA    0:05- 1:46

10 Durch Hohes und Tiefes, Lied-Nr. 299, Strube Verlag München, 2008

11 Durch Hohes und Tiefes, Lied-Nr. 350, Strube Verlag München, 2008

 

 

 

 

 

 

 

 

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