Römer 8, 26-30

Römer 8, 26-30

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


The 7th Sunday of Easter (6. Sonntag
nach Ostern), 12. Mai 2002
Predigt über Römer 8, 26-30, verfaßt von Henry von Bose


Liebe Gemeinde,

der Sonntag heute trägt seinen Namen „Exaudi“ von dem
Psalmvers: „Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir
gnädig und erhöre mich!“
(Ps 27,7)

Der Predigttext aus dem 8. Kapitel des Römerbriefs nimmt auf seine
Weise die Bitte auf. Der Apostel Paulus entfaltet hier seine Rechtfertigungslehre,
das Herzstück seiner Theologie. Gott ist seinen Menschen unendlich
gut, Jesus Christus hat für ihr Heil alles getan, zum Glauben befreite
Menschen dürfen sich als Jesu Geschwister, als Kinder Gottes verstehen,
liebevoll angenommen und geleitet. Zugleich sind sie nicht anders als
alle Menschen der Erfahrung des Leidens ausgesetzt, der Angst. Sie wissen,
dass alles, woran sie hängen und worauf sie angewiesen sind, vergänglich
ist. Sie verschließen nicht die Augen vor der großen Not und
dem unermesslichen Leid, denen unzählige Menschen überall auf
der Welt ausgesetzt sind. Nicht selten tragen Christen schwer daran, wie
viel Ungerechtigkeit und Gewalt das Leben und die Gesundheit vieler Menschen,
ganzer Völker bedroht. Wie groß ist das Leid, das zum Himmel
schreit. Immer wieder wird es einzelnen durch eine konkrete Nachricht
oder eigenes Erleben bewusst.

Jedes Mal bedeutet das für die Erfahrung des Glaubens Anfechtung.
Dieses altmodisch klingende Wort trifft, worum es geht: Anfechtung meint
den schmerzenden inneren Widerstreit im einzelnen Glaubenden zwischen
dem Miterleben der harten Wirklichkeit und der Hoffnung auf die Erlösung
der Welt. Paulus beschreibt diesen Gegensatz, der oft schwer auszuhalten
ist, und sagt es so: Hier die Knechtschaft der Vergänglichkeit, der
die Schöpfung unterworfen ist, und dort die herrliche Freiheit der
Kinder Gottes. Kann nicht schon jetzt von dieser Freiheit viel mehr spürbar
werden, etwas von der verheißenen Erlösung wirksam werden?
Kann nicht das Leid gelindert und das Unrecht beseitigt werden? Solche
Fragen fordern sehr viele zu eigener Verantwortung heraus. Sie setzen
sich dafür ein, dass sich lebensfreundlichere, gerechtere Verhältnisse
entwickeln können. Die Kirchen rufen dazu auf und verpflichten sich
gegenseitig zur Zusammenarbeit. Das wird von vielen als ermutigend erlebt.
Dennoch ist oft große Geduld erforderlich, um an der Hoffnung festzuhalten,
dass Gott seiner Schöpfung unendlich wohl will und sie erlösen
wird.
Auf diese Spannung spricht Paulus die Gemeinde in Rom an. Er weiß,
dass sie sich mit ihr auseinandersetzt.

„Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht,
was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst
vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.
Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes
gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt.
Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen,
denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.
Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich
sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei
unter vielen Brüdern.
Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen
hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat,
die hat er auch verherrlicht.“
(Röm 8,26-30)

Paulus spricht die Christen in Rom auf eine Erfahrung an, die er von
sich selbst und aus den anderen Gemeinden kennt: Sie sind von dem inneren
Widerstreit angefochten zwischen dem, wie leidvoll sie die Wirklichkeit
wahrnehmen, und dem, was sie sich von Gott erhoffen. Sie erleben, wie
fern Gott ihnen ist, wie weit der Abstand von ihm ist. Diese Erfahrung
bedrängt sie so sehr, dass Paulus sie aufnimmt und auch auf sich
bezieht: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt.
Wie können wir so beten, dass es Gott gefällt? Wie können
wir ihn erreichen? Mit dem Psalmwort für Exaudi heute: „Herr,
höre meine Stimme, wenn ich rufe.“
Wie können wir rufen,
damit Gott uns hört?

Paulus antwortet aus seinem Grundverständnis des Glaubens. Die
Glaubenden sind gerechtfertigt, sollen sich schon jetzt selbst so sehen:
alles, was wir zum Glauben brauchen, gibt uns Gott selbst. Wir bekommen
es von ihm. Er ist uns immer voraus. Das ist unser Heil. Wir sind nicht
davon abhängig, was wir vor Gott können. Um zu ihm „lieber
Vater“
sagen zu können, um darauf vertrauen zu können,
dass er uns als seine Kinder hört, gibt er uns seinen Geist. Der
Geist Gottes selbst überbrückt den Abstand der Betenden zu Gott.
Er hilft unserer Schwachheit auf. Er gleicht aus, was wir aus unserer
menschlichen Kraft nicht können. Er vertritt uns. Das tut er mit
unaussprechlichem Seufzen.

Paulus antwortet der Gemeinde in ihrer Anfechtung als Seelsorger. Er
tröstet sie und macht ihr Mut. Er nimmt die einzelnen ernst: zurecht
seufzen sie in ihren Leiden an der Wirklichkeit und ihrer nur schwer zu
bewahrenden Geduld, an der Hoffnung nicht zu verzweifeln. Ehrlicher als
ein solches Seufzen kann ein Gebet nicht sein. Gerade jetzt können
sie sich bewusst machen, was Rechtfertigung bedeutet. Sie müssen
vor Gott für ihr Beten keine Regeln einhalten. „Wir wissen
nicht, was wir beten sollen.“
Paulus gibt keine Anweisungen für
richtiges Beten, „wie sich’s gebührt“. Er sagt ihnen
nicht, was sie tun müssen. Er erklärt ihnen, was Gott tut. Gott
gibt Betenden seinen Geist, lässt ihn sie bei sich vertreten. Der
heilige Geist ist wie ein Anwalt, er spricht für sie. Er gleicht
aus, was sie nicht wissen. Sie sollen darauf vertrauen: Gottes Geist bringt
ihr Seufzen zu ihm; was den Betenden unaussprechlich ist, dafür tritt
der Geist bei Gott selbst ein.

„Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge vom
Besten dienen.“
Paulus nimmt eine sprichwörtliche Redensart
auf und gibt ihr einen neuen Sinn: Gott lieben können alle, denen
Gott selbst dafür das Herz auftut. Ihre belastenden Erfahrungen,
auch die schlimmsten, von Leid und Not, sollen zusammen gesehen werden
mit der Hoffnung auf Erlösung. „Gott wird abwischen alle
Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid
noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“
(Apk 21,4). Das ist
die Verheißung.

Gott hat dafür das Allermeiste schon getan. Er hat berufen, ausersehen,
vorherbestimmt, gerecht gemacht, verherrlicht: Wie die Glieder zu einer
Kette fügt der Apostel eines zum andern, es bleibt keine Lücke
für den Zweifel dazuzugehören. Die Zugehörigkeit ist unverbrüchlich.
Gott selbst ermöglicht sie. Allemal ist er der Handelnde.
Er will, dass seine Menschen dem Bild seines Sohnes gleich sind. So sieht
Gott sie an: sie sind seine Kinder, der Geist bezeugt es ihnen, den Geschwistern
Jesu Christi. Der Geist vertritt sie bei Gott, dem himmlischen Vater.

Das neu zu betonen, liebe Gemeinde, gehört zum Sonntag Exaudi heute.
Er steht in den evangelischen Kirchen unter dem Leitwort „Die
wartende Gemeinde“
. Dass der heilige Geist für die Glaubenden
bei Gott eintritt, auch diese Hoffnung verbindet sie zu der großen
Gemeinschaft der Heiligen, wie wir es im Glaubensbekenntnis sagen. Alle
sollen dessen gewiss sein: so gut das Beten zum Warten gehört, so
beruhigend dürfen sich alle gesagt sein lassen – ob uns Worte zum
Gebet in den Sinn kommen oder ob wir nicht wissen, was wir beten sollen,
der Geist spricht bei Gott für uns. Dass Seufzen ein angemessenes
Gebet ist, gehört zu dieser Zusage hinzu.

Ein einfühlsamer theologischer Lehrer hat den überaus hilfreichen
Satz geschrieben: „Das Beten bleibt wach an der Fürbitte.“
(Julius Schniewind. Die geistliche Erneuerung des Pfarrerstandes, Nr.
16). Für andere beten, ist auch eine Form des Eintretens für
sie. Die Fürbitte kann leicht in einem Seufzen ausmünden. Wie
schwer ist es oft, die Lösung einer schwierigen Lebenslage für
einen geliebten Menschen konkret zu erbitten. Häufig ist sie beim
Miterleben und dann beim Beten gar nicht zu erkennen. Je stärker
die eigenen Empfindungen von der wahrgenommenen Ungewissheit oder Not
bestimmt sind, desto eher wird die Bitte um Gottes Hilfe in ein tiefes
Seufzen aufgehen. Auch an solcher Fürbitte bleibt das Beten wach.
Auch ihr gilt die Verheißung, dass Gott sie durch die Vermittlung
seines Geistes hört.

Sehr oft ist die Fürbitte auch verbunden mit der Hoffnung, herauszufinden,
ob wir selbst helfen können. Die dringende Frage: Was kann ich tun?,
begleitet dann das Gebet; wie kann ich dem Menschen, für den ich
bete, beistehen? Jochen Kleppers Vers aus seinem Mittagslied nimmt die
darin anklingende Hoffnung in großer Klarheit auf: „Die Hände,
die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat. Und was der Beter Hände
tun, geschieht nach seinem Rat“ (EG 457,11).

Selbst aus dem Seufzen einer Fürbitte, die gar nicht auszusprechen
ist, kann sich ein Weg in die Freiheit erschließen, einem Menschen
hilfreich zur Seite zu sein. Wer eine solche Erfahrung macht, die, der
sieht sich gestärkt in dem Vertrauen auf den heiligen Geist, auf
sein Eintreten bei Gott.

Liebe Gemeinde, in der Tradition unserer Kirche ist dieses Eintreten,
diese Eigenschaft des Geistes, wie ein Anwalt, ein Fürsprecher zu
sein, besonders für die soziale Verantwortung wichtig geworden. Die
Diakonischen Werke der evangelischen Landeskirchen haben sich dieses anwaltschaftliche
Eintreten zum Leitbild für ihre Parteinahme für Benachteiligte
und Hilfebedürftige gemacht. Die Mitarbeitenden der Diakonie, ob
hauptamtlich oder freiwillig tätig, lassen sich für ihr Selbstverständnis
davon leiten. Sie setzen sich anwaltschaftlich für die Menschen ein,
deren sie sich mit ihrer besonderen Fachkenntnis annehmen. Sie treten
bei den zuständigen Personen in Politik und Verwaltung für sie
ein und suchen mit ihnen und für sie nach angemessenen Lösungen.

Eine besondere Form des Eintretens für andere ist schließlich
das Gedenken. Um ihres Leidens zu gedenken, ist auch in den Kirchen nach
angemessenen Formen gesucht worden, an die missachtete Würde der
Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Ich schildere Ihnen ein mich
besonders beeindruckendes Beispiel: „Für die bekannten und die
unbekannten Opfer – ein Alphabet-Garten“ – so lautet der Titel einer
Arbeit der Bildhauerin Diane Samuels aus Pittsburgh auf einer kleinen
Wiese der Gedenkstätte Grafeneck. Dort, auf der Schwäbischen
Alb, sind 1940 10654 behinderte und psychisch kranke Menschen ermordet
worden.

Das Denkmal hat Frau Samuels 1998 aus 26 kleinen Granitquadern und 14000
Blumenzwiebeln geschaffen. Jeder Stein trägt einen der Buchstaben,
die Steine sind unsymmetrisch angeordnet, zu jeder Zeit blüht es
zwischen ihnen anders. Noch sind die Namen von 4000 Opfern unbekannt,
die bekannten sind in einem Gedenkbuch aufgeführt. Aus den 26 Buchstaben
im Alphabet-Garten lassen sich alle fehlenden Namen bilden.

Zu ihrem Werk wurde die Künstlerin durch eine Erzählung aus
der Kabbala inspiriert: Einem Gelehrten erlaubt Gott, seinen himmlischen
Gesprächspartner schon bei Lebzeiten kennen zu lernen. Der reist
zu ihm und sucht ihn in seinem Dorf im Lehrhaus, trifft ihn aber nicht
dort, sondern in einer bescheidenen Hütte. Er besitzt kein einziges
Buch. Fassungslos fragt ihn sein Besucher: „Wie kannst du beten –
ohne jedes Buch?“ Er antwortet: „Ich kann nicht lesen, deshalb
habe ich kein Buch. Aber ich kann das Alphabet aufsagen. Und dann bitte
ich Gott, aus meinen Buchstaben Gebete zu machen.“

Aus Unausgesprochenem, Unaussprechlichem hört Gott das Nötige.
Paulus macht Mut zu dem Vertrauen, dass der heilige Geist die Betenden
dabei vertritt. Gleich im Anschluss an den Predigttext heute nimmt der
Apostel diesen Gedanken wieder auf und verbindet ihn mit dem auferstandenen
Jesus Christus. Er ist zur Rechten Gottes und vertritt uns. Was das bedeutet,
zeigt noch einmal, wie denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.
Paulus fragt: „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal
oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr
oder Schwert? … Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel
noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von
der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“
(V.
35.38 f.)

Amen.

Kirchenrat Henry von Bose
Friedrich Karl von Flemming zu seinem 95. Geburtstag

Diakonisches Werk Württemberg, Landesgeschäftsstelle
Heilbronner Str. 180, 70191 Stuttgart
Telefon 0711/1656-116 Telefax 0711/165649116
e-mail: vonBose.H@diakonie-wuerttemberg.de

 

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