Exodus 2,1-10

Exodus 2,1-10

«Zur ver-rückten Welt kommen» | Christfest I | 25. 12. 2023 | Ex 2,1-10 | Dörte Gebhard |

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus, Amen.

Liebe Gemeinde

I          Jesus

Eine leichte Geburt muss es in jener Nacht gewesen sein, die später erst «heilige Nacht» genannt werden sollte.

Maria hatte wohl nicht einmal eine Hebamme, die ihr mit Rat und Tat zur Seite stand. Trotzdem ging nichts schief.

Hebammen spielen in der Geschichte Israels sonst eine entscheidende Rolle. Sie retten und schützen Leben, so oft sie können. Aber Maria beklagt sich nicht: Alles wird routiniert und sehr selbstverständlich geschildert. Von der Heiligen Nacht werden keine medizinischen Herausforderungen überliefert.

Aber war es wirklich eine leichte Geburt?

Eine unkomplizierte Geburt muss es gewesen sein.

Von Josef und den grossen seelischen Strapazen, die Väter sonst bei Geburten durchmachen, ist mit keinem Wort die Rede.[1] Aber es hat ihn auch niemand gefragt. Die Lage war zu aussergewöhnlich. Es gab wohl für ihn zu viel tun, um gleichzeitig darüber nachzudenken, ob es ihm etwas ausmacht.

Aber war es wirklich eine unkomplizierte Geburt?

Eine schnelle Geburt muss es gewesen sein.

Am Abend hatten Maria und Josef selbst noch keine Herberge, in derselben Nacht empfangen sie bereits zu dritt die Hirten als Gäste im Stall.

Wirklich?

Eine Geburt unter katastrophalen, hygienischen und sozialen Umständen ist es gewesen, aber gewiss nur eine unter anderen ähnlicher Art.

Im Stall aber kommt Gott zur ver-rückten Welt … wie alle anderen Kinder auch.

Wie viele Kinder seither unter unzumutbaren Umständen auf die Welt gekommen sind? Oder schon starben, ehe sie lebten? Wie es z.B. geschah am 9. März 2022 in Mariupol, als das Krankenhaus bombardiert wurde? Da kamen, nach allem, was wir wissen, mindestens eine Schwangere und ihr Ungeborenes um.[2]

Wir erinnern uns daran vielleicht nur noch vage, weil seither so viel Anderes, immer wieder Grauenhaftes dazukam.

Wie viele schwere Geburten gab es wohl schon in einem der Flüchtlingslager auf den fünf griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros, wohin vor allem Menschen aus Syrien und Afghanistan irgendwie gelangt sind? Ungefähr 17’000 Menschen leben im Dezember 2023 als Flüchtlinge und Migrant/-innen dort, wie die UNO-Flüchtlingshilfe mitteilt.[3]

Ganz bestimmt wurde heute Nacht irgendwo im Gazastreifen ein Kind geboren. Die Geburtenrate dort gehört trotz des grausamen Terrorregimes zu den höchsten weltweit. Die Hälfte der Bevölkerung von Gaza ist unter 19 Jahre alt. Ob eine kleine, junge Familie in den nächsten Tagen über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten fliehen kann? Das ist wenig wahrscheinlich. Ruhe im Wochenbett wird es so oder so nicht geben.

Seit ich auf der Kanzel stehe, seit etwas mehr als fünf Minuten, sind – geschätzt und hochgerechnet – weit über tausend Kinder auf der ganzen Welt geboren worden. Das kann selbstverständlich niemand unmittelbar nachzählen, aber man ist sich weitgehend einig, dass ca. vier Kinder pro Sekunde zur Welt kommen. 2,4 Milliarden Kinder unter 17 Jahren leben auf der Erde. Der Eindruck bei uns täuscht sehr, was die durchschnittliche Menge an Kindern und Jugendlichen betrifft.

Am Weihnachtsmorgen steht uns Jesu Geburt vor Augen – und die vielen, anderen Geburten, die unter ähnlich schweren Umständen stattfinden, weit entfernt von Spitälern und Hilfe jeglicher Art; in Slums und Bunkern, überall, wo die frische Landluft des Stalls als unerreichbar herrlich gilt …

Daher muss noch von einer anderen unzumutbaren Geburt erzählt werden. Sie ist lange her, aber leider ist die Welt immer noch so ver-rückt, dass es jederzeit wieder so passieren kann.

II         Mose

Die junge Frau, von der ich jetzt erzähle, ist im Gegensatz zu Maria verheiratet und erwartet wieder ein Kind. Sie hat schon eine Tochter. Ihr Mann ist vom selben Stamm wie sie. Alles ist standesgemäss. Aber die ganze Familie gehört zu einem unterdrückten Volk. Sie werden übel ausgenutzt und ausgebeutet, sie sind selten satt und ohnmächtig den Launen der Aufseher ausgeliefert, als gälten keine Menschenrechte für sie.

Sie diskutieren viel im Verborgenen: Sollen wir fliehen oder bleiben? Aber wohin denn fliehen? Vor allem: Es bräuchte dafür einen Anführer, auf den alle hören! Gelingen kann es nur, wenn alle zusammenhalten, alle mitmachen. Aber was soll eine Flucht bringen? Niemand würde sie irgendwo auf der Welt erwarten und davor ist noch das Meer, durch das alle irgendwie durch müssten …

So besprechen sie sich. Die winzige Hoffnung auf ein besseres Leben auf dieser ver-rückten Welt, die sie dennoch haben, teilen sie miteinander.

Mitten in der Schwangerschaft der jungen Frau spricht sich herum, dass der neue Diktator, wesentlich schlimmer noch als der alte, alle neugeborenen Knaben in den Fluss werfen und ertränken lassen will.

Die schwangere Frau betet wahrscheinlich inständig, dass es wieder ein Mädchen werden möge.

So wie sie andernorts und zu anderen Zeiten beten, dass es unbedingt ein Junge sein möge … die Welt war und ist ver-rückt.

Aber jene Frau damals bekommt einen Sohn. Es geht offensichtlich nicht nach ihren Wünschen, sondern es geht nach Gottes Verheissungen.

Die Hebammen damals geben zu Protokoll, als man sie verhört, warum immer noch so viele Buben am Leben sind: Die Frauen sind … kräftige Frauen. Ehe die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie geboren.(Ex 1, 19)

Das Neugeborene, von dem hier erzählt wird, ist ein ganz besonderes Kind, das sieht und das spürt die Mutter. Aber er schwebt in Lebensgefahr. Nicht, weil er schwach wäre, sondern wegen der sinnlosen Gewalttätigkeit der Herrschenden.

Im ersten Moment fällt ihr nichts anderes ein, als ihren neugeborenen Sohn zu verstecken. Das tut sie wohl intuitiv, ohne viel darüber nachzudenken. Drei Monate geht das tendenziell gut, dann aber hat dieser und jener doch einmal ein Baby weinen hören, die Fragerei beginnt …

Aber Gott hat ihr nicht nur einen Sohn geschenkt – jetzt hat sie noch dazu eine göttliche Eingebung und fasst einen gefährlichen, aber genialen Plan.

Sie wird ihren Sohn aussetzen! Dass das verboten ist, weiss sie selbst. Dass es auch gegen Gottes Gebot ist, muss ihr niemand erklären. Zu total spontanen Handlungen aber neigt sie nun nicht mehr. Sie baut etwas Stabiles, Transportfähiges für ihren Säugling und setzt ihn genau dort aus, wo er auch ganz sicher gefunden wird. Die grosse Schwester ist neugierig und sieht aus sicherer Entfernung zu, was geschieht.

Es kommt wie erhofft. Die Verwandtschaft des Diktators, die sich oft dort aufhält, findet das Waisenkind. Die Herzigkeit und Hilflosigkeit eines kleinen Babys überwältigt auch Familienangehörige, die sonst Mord und Totschlag alltäglich finden und denen ein Menschenleben wenig wert ist. Ganz zu schweigen vom Wissen, dass ein Menschenleben eine unverlierbare Würde hat.

Dass ihr Sohn gefunden wird, hatte die Mutter gehofft. Was sie nicht zu hoffen wagen konnte, tritt ein: Genau sie wird als Amme engagiert, weil das Kind noch gestillt werden muss. Dafür bekommt sie dann auch noch Lohn! Ver-rückte Welt!

Das Kind wächst und gedeiht, aber das Happy End der Geschichte ist noch weit. Als ihr Sohn entwöhnt ist, muss sie ihn hergeben und kann nicht einmal von weitem zusehen, wie er im Palast aufwächst, geschweige denn, dass sie Einfluss auf seine weitere Erziehung nehmen kann. Aber – nach allem, was in einem einzigen Menschenleben dazwischenkommen kann – endet es gut.

III       Wir … kommen auf die Welt

Einmal sind wir alle wie Jesus und dieses ausgesetzte Kind auf die Welt gekommen. Genau wie sie:

hilfsbedürftig, aber herzig,

schutzbedürftig, aber stark darin, Hoffnung zu verbreiten,

ohnmächtig, aber von Gott begabt.

Dabei haben wir uns nicht für das 20. oder 21. Jahrhundert entschieden, auch nicht für die Weltgegend, geschweige denn das Land, auch nicht für unsere Eltern oder Verwandten, auch nicht für die näheren Umstände.

Unser ganzes Leben lang kommen wir immer wieder einmal auf die Welt, wenn wir mit ansehen müssen, wie ver-rückt die aktuellen Verhältnisse sind, wenn wir zu Weihnachten besonders spüren, wie schwer es für viele Kinder ist, die jetzt geboren werden, mitten im Krieg, mitten in der Armut, mitten im Leid.

Gott erspart ihnen und ihren Eltern nichts von dem, was Menschen einander zufügen können, aber er ist nah und da, immer schon vor uns – seit mehr als 3000 Jahren.

Längst wisst Ihr, wessen Geburtsgeschichte ich vorhin erzählt habe.

Schon aus Sonntagsschulzeiten ist die Geschichte manchen vertraut.

Jetzt lese ich am Schluss der Predigt den vorgesehenen Predigttext für den 1. Weihnachtstag 2023 aus Ex 2, 1-10:

21 Und ein Mann aus dem Hause Levi ging und nahm die Tochter Levis zur Frau.

2 Und die Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn, und sie sah, dass er schön war. Da versteckte sie ihn drei Monate lang.

 3 Länger aber konnte sie ihn nicht versteckt halten. Und sie nahm für ihn einen Korb aus Papyrus und verklebte ihn mit Asphalt und Pech. Und sie legte das Kind hinein und legte ihn ins Schilf am Ufer des Nil. 4 Seine Schwester aber blieb in einiger Entfernung stehen, um zu erfahren, was mit ihm geschehen würde. 5 Da kam die Tochter des Pharao herab, um sich am Nil zu waschen, während ihre Dienerinnen am Ufer des Nil auf und ab gingen. Und sie sah den Korb mitten im Schilf und schickte ihre Sklavin hin und liess ihn holen. 6 Und sie öffnete ihn und erblickte das Kind, und sieh, es war ein weinender Knabe. Da hatte sie Mitleid mit ihm und sagte: Das ist eines von den Kindern der Hebräer. 7 Seine Schwester aber sagte zur Tochter des Pharao: Soll ich gehen und dir eine hebräische Amme rufen, damit sie das Kind für dich stillt? 8 Und die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Geh! Da ging die junge Frau und rief die Mutter des Kindes. 9 Und die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Nimm dieses Kind mit dir und stille es für mich, und ich werde dir deinen Lohn geben. Da nahm die Frau das Kind und stillte es. 10 Und das Kind wuchs heran, und sie brachte es der Tochter des Pharao, und es wurde ihr Sohn. Und sie nannte es Mose und sprach: Ich habe ihn ja aus dem Wasser gezogen.

(Ex 2, 1-10, Zürcher Bibel)

Und der Friede des Gottes, der zu Weihnachten zur ver-rückten Welt gekommen ist, aber schon mit Mose und seiner Mutter war, dieser Friede, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus,                                                                              Amen.


Dörte Gebhard, Pfarrerin

[1] Bei der Weihnachtsgeschichte bin ich alle Jahre wieder beeindruckt, was alles nicht erzählt wird.

[2] https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-schwangere-frau-erliegt-nach-angriff-auf-mariupol-ihren-verletzungen-a-62f245f8-1220-45bc-a77f-f834e0d9d0cf. Abgerufen am 19. 12. 2023.

[3] https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/griechenland. Abgerufen am 19. 12. 2023.

de_DEDeutsch