Gen 1,1-4

Gen 1,1-4

Lichtblicke hinter den Urknall | Jubilate | 8.5. 2022| Predigt zu Gen 1,1-4 | verfasst von Wolfgang Vögele|

Segensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Jubilate steht 1Mose 1,1-4:

„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war.“

Liebe Schwestern und Brüder,

im schummrigen Keller ist mit einem Blitz das Licht ausgefallen. Vielleicht ist die alte Glühbirne durchgebrannt. Der ältere Herr mit der Baskenmütze, nennen wir ihn Johannes Müller, tastet sich sehr vorsichtig zu einem verstaubten Regal in der linken Ecke. Seine alten Augen haben Mühe, sich an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Die Kontraste von Licht und Schatten sind verschwunden. Herr Müller meint sich zu erinnern, daß im Regal eine halb abgebrannte Bienenwachskerze herumsteht. Tastend findet er das Regal und murmelt etwas Unverständliches. Weiter tastend findet er die gelbe Kerze. Noch weiter tastend findet er auch das Feuerzeug. Und er ist froh, daß es beim Niederdrücken zischt. Vorsichtig zündet er den Docht an. Das Kerzenlicht verbreitet schummrige Helligkeit, aber das genügt ihm, um sich zu orientieren. Er macht sich auf die Suche nach Ersatzglühbirnen. Der alte Mann wirkt erleichtert.

Seit vier Jahren freut er sich über eine Enkelin, Theresa. Er besucht sie gelegentlich, um auf sie aufzupassen, wenn seine Tochter, Theresas Mutter und ihr überarbeiteter Mann, einmal ausgehen wollen. Klein-Theresa mag es gar nicht, im Dunkeln allein in ihrem Bett zu liegen. Die Eltern haben ihr deshalb eine kleine Lampe gekauft, die sie jeden Abend an einer Steckdose anschließen. Das Licht ist schwach und leicht grün gefärbt. Es reicht aus, um das Mädchen beim Einschlafen zu beruhigen. Sie achtet sehr darauf, ihrem Großvater, der sie ins Bett bringt, genau zu erklären, wo er die Lampe und die Steckdose findet, damit sie beruhigt einschlafen kann.

Es ist nicht viel Licht nötig, um sich in einem dunklen Raum zu orientieren. Mit wenig Helligkeit können sich Kellerbesucher und kleine Kinder, Grubenarbeiter und Nachtwächter sicher aufgehoben fühlen. Theresa weiß, daß das Licht für sie gut ist.

Viele andere, viel erwachsener als die kleine Theresa, werden ihr darin zustimmen: Das vom Dynamo getriebene Fahrradlicht, die Kerze am Adventskranz, ein Schwarm Glühwürmchen oder ein Bündel Wunderkerzen an Sylvester verbreiten wärmeres oder kälteres, in jedem Fall beruhigendes Licht.

Ich kann sehen.

Ich kann mich orientieren.

Ich stoße an keine Kante

Ich stolpere nicht.

Ich bin geborgen.

Menschen sind Lichtsucher und freuen sich an jedem noch so kleinen Licht. Nicht jedes Lebewesen braucht das. Maulwürfe sehen schlecht, weil sie in ihren unterirdischen Gängen kein Licht haben; dafür ist ihr Tastsinn bestens entwickelt. Tiefseefische sehen mit Hilfe kleiner Leuchtorgane. In der Meeresbiologie heißen sie mit wissenschaftlichem Namen Photophoren, Lichtträger. Tiefseefische tragen ihr eigenes Licht bei sich, weil das natürliche Licht der Sonne nicht so tief unter Wasser dringen kann.

Lebewesen, Menschen, Tiere, Pflanzen sind auf Licht angewiesen. Wo es nicht vorhanden ist, muß es ersetzt werden. Den priesterlichen Verfassern des Predigttextes fehlte das biologische, physikalische und astronomische Wissen, das sich Generationen von Forschern mühsam erarbeitet haben. Die Klassifizierung der Biologen unterscheidet sich von der heiligen Schöpfungsordnung der Priester. Aber beide reden von einer lebendigen Ordnung. Und für die Priester Israels stand fest: Das Licht für diese Ordnung des Lebens kommt von Gott. Mit ihm nimmt alles Geschehen im Kosmos seinen Anfang. Der Lichtfunke springt über. So beginnt die Schöpfung.

Lange hat man gedacht, diese biblische Erzählung vom Anfang des Kosmos stehe in einem unüberwindlichen Gegensatz zu allen naturwissenschaftlichen Erklärungen der Welt. Letztere arbeiten heraus, daß die Welt vor Milliarden Jahren mit einem Urknall entstand. Vorher war nichts. Und dieses Nichts entzieht sich jeder Erklärung. Dann kommt der Knall, und dann erst kann man von Raum und Zeit, von Neutronen und Elektronen, von Sternhaufen und schwarzen Löchern – und von Licht sprechen. Alle Teilchen streben auseinander, mit Lichtgeschwindigkeit, unvorstellbar für menschliches Fassungsvermögen, genauso wunderbar und geheimnisvoll wie das, was die Bibel vom Anfang der Schöpfung erzählt.

Anfänge atmen ihre eigene Leidenschaft. Sie beschreiben Urszenen, aus denen sich alles andere entwickelt. Das gilt für die Anfänge von Romanen, von Filmen, für die Geburt eines Kindes wie Theresa als Anfang der Lebensgeschichte; das gilt für den Anfang der Schöpfung und für die Entstehung der Welt und die Evolution der Natur. Am Anfang werden Schalter umgelegt, Weichen gestellt. Neugierige stellen die Frage: Was hat Gott sich gedacht, als er den Kosmos ins Leben rief? Was hat sich der Mensch gedacht, der kein Affe mehr war und sich zum ersten Mal aufrichtete und auf zwei Beinen ging? Was hat Galileo Galilei gefühlt, als er erkannte, daß die menschliche Welt nicht als Mittelpunkt im Kosmos verankert ist, sondern sich umgekehrt die Erde um die Sonne dreht? Wem hat Albert Einstein die Zunge herausgestreckt, als er, der Schulversager, seinen Aufsatz über Relativitätstheorie und Lichtgeschwindigkeit veröffentlichte?

Über diese Fragen läßt sich trefflich spekulieren. Ich will das jetzt nicht tun, sondern kurz einige Details aus der biblischen Schöpfungsgeschichte hervorheben.

Am Anfang war nicht Nichts. Am Anfang, so die Bibel, war etwas, das man im Hebräischen ‚Tohuwabohu‘ nannte: Unordnung, Chaos, Verwirrung, Unübersichtlichkeit. Das Wort traf so gut, daß es aus dem Hebräischen in andere Sprachen, darunter das Deutsche, auswanderte. Und Gott sollte aus dem Tohuwabohu Ordnung, System, Rangfolge, Hierarchie machen. So dachten sich das die Priesterautoren des Schöpfungsberichts.

Am Anfang war nicht Nichts. Es herrschte Finsternis. Es war nichts zu sehen. Dunkelheit, die die Menschen, die noch nicht geschaffen waren, verunsichert hätte. Kein Streichholz, kein Feuerzeug, keine Kinderzimmerleuchte. Die Finsternis war total, Dunkelheit wechselte sich noch nicht täglich mit Helligkeit ab. Die Sonne schuf noch nicht wundervolle orangene Übergänge zwischen Tag und Nacht: Morgenröte und Abendstimmung.

Am Anfang war nicht Nichts. Am Anfang war Tohuwabohu. Es herrschte Finsternis. Aber Gott war schon anwesend. Er schwebte als Geist über dem Wasser. Man kann nun fragen, wie Gott über dem Wasser schweben kann, wenn das Wasser nach der Schöpfungsgeschichte doch erst am dritten Tag oder in Kapitel 1, Vers 10 geschaffen wird. Aber niemand wird die Erzählung der Bibel mit den Linealen und Thermometern naturwissenschaftlicher Genauigkeit messen.

Am Anfang sind Tohuwabohu und Gottes Geist getrennt. Dunkelheit herrscht. Dann kommt das Licht. Und die Schöpfung beginnt, wie sie die Priesterautoren erzählen. Gott schafft eine Ordnung, Wasser und Land, Tage und Nächte, Himmel und Erde, Pflanzen und Tieren und Menschen. Licht macht diese gute Ordnung sichtbar und nachvollziehbar. Am Anfang entscheidet sich alles. Am Anfang stellt Gott die Weichen auf Liebe.

Die wissenschaftliche Theorie vom Urknall führt den Ursprung des Kosmos auf eine Explosion zurück. Bei einer Explosion, wie wir sie uns vorstellen, explodiert ein Sprengsatz. Mit dem Urknall kann kein Sprengsatz explodieren. Eher explodiert das Nichts zu Etwas, das der Kosmos ist. Der Urknall ist also nicht mehr als ein Bild. Mit so etwas wie einer Explosion bilden sich allererst Raum und Zeit und Licht.

‚Zeit‘ und ‚Raum‘ vor dem Urknall entziehen sich unserer Vorstellungskraft. Niemand kann sich eine Welt ohne diese beiden Koordinaten vorstellen. Niemand kann sich eine Welt ohne Licht vorstellen. Das Licht unterliegt einer bestimmten Höchstgeschwindigkeit: 300 000 Kilometer pro Sekunde. Liebe Gemeinde, mir fehlen Zeit und Fachwissen, um die vielen, oft noch umstrittenen Details der Theorie des Urknalls und ihre theologische Deutung zu erklären.

Schon gar nicht will ich den Vorrang der biblischen Schöpfungsgeschichte vor der Theorie des Urknalls behaupten. Wer eine wissenschaftliche Erklärung der Welt finden will, wird sich mit allem Recht an die Theorie des Urknalls halten – einschließlich aller noch ungelösten Rätsel und Geheimnisse. Das muß aber niemanden davon abhalten, von Gott zu reden, von der unendlichen Energie, die diese Welt geschaffen hat. Mein Vertrauen auf den biblischen Gott wird nicht dadurch beschädigt, daß ich die Auskünfte der Naturwissenschaften über die Entstehung der Welt plausibel finde.

Mir scheint es sehr spannend, daß in beiden Erzählungen das Licht eine Schlüsselrolle spielt: Photonen, Lichtstrahlen, elektromagnetische Wellen mit dem ganzen Farbspektrum aus Rot, Gelb, Blau, aber auch Sonnenstrahlen, Flämmchen von Wachskerzen, Lagerfeuern, Glühbirnen, Fahrraddynamos und Scheinwerfern. Wer die Dunkelheit durch eine Lichtquelle vertreibt, der läßt sich aufklären und beleuchten, der schafft einen Raum der Sicherheit und des Vertrauens, egal ob es sich vorher um ein dunkles Kinderzimmer, einen düsteren Kellerraum oder eine nächtlichen Radweg mit schlechter Sicht gehandelt hat.

„Und Gott sah, dass das Licht gut war.“

Liebe Schwestern und Brüder, am Ende will ich Ihnen die Geschichte eines Atheisten erzählen. Er war ein bekannter französischer Maler und hieß Henri Matisse. Er lebte von 1869 bis 1954, die letzten Jahrzehnte meist in Nizza an der Côte d’Azur. Matisse gehörte zu den Gründerfiguren der modernen Malerei, die sich besonders für Licht, seine Brechungen und Reflexionen, für Schatten und Dunkelheit interessierten. Der Pointe seiner Malerei bestand darin, Landschaften, Menschen und Dinge in unterschiedlichen Lichtverhältnissen zu zeigen. Licht überstieg für ihn einen kruden Realismus, der angeblich der Wirklichkeit ‚wie sie ist‘ verhaftet war. Malerei war für ihn mehr als ein Abklatsch der Wirklichkeit.

Ende der vierziger Jahre fragte eine Dominikanernonne den alt gewordenen Maler, die den Maler einmal als Krankenschwester gepflegt hatte, ob er bereit sei, für ihr Kloster eine Kapelle zu gestalten. Die Kapelle sollte in Vence, einer Kleinstadt im Hinterland von Nizza, stehen. Matisse zögerte zuerst, weil er nicht an Gott glaubte. Dann ließ er sich auf den Auftrag ein, bat sich aber aus, daß er alles gestalten wolle, nicht nur die Kapelle und ihre Fenster, sondern auch Altar, Kreuz, Bänke und Stühle, sogar die liturgischen Gewänder für den Priester, die Jahre später im Vatikan ausgestellt werden sollten.

Das Kloster der Dominikanerinnen gibt es bis heute in einem unscheinbaren Neubaugebiet in Vence. Touristen und Glaubende können die Chapelle du Rosaire besuchen. Wenn sie den kleinen Raum betreten, sehen sie zuerst einmal eine Flucht von Glasfenstern. Sonnenlicht fällt von Süden und Westen ein. Blau und Gelb sind die Hauptfarben. In der Provence erinnert das Blau an die Wellen des Meeres und das Gelb an die Sonne in der Mittagshitze. Die Pflanzen in den Fenstern sind nur als Ornamente angedeutet. Im Blau erkennt man keine Wellen. Zum Blau und Gelb der Fenster treten das Weiß und das Schwarz der Ordenstracht der Dominikanerinnen. Matisse hat auch das bedacht bei seiner kirchlichen Lichtkomposition.

Wer die Kapelle zum ersten Mal betritt, wird überwältigt von gelben und blauen Farbtönen, vom Licht der Sonne, die das Licht Gottes widerspiegelt. Ich bin überzeugt, Matisse, der nicht an Gott glaubte, hatte trotzdem diesen Vers im Sinn: „Und Gott sah, dass das Licht gut war.“ Der Aufenthalt in diesem lichtdurchfluteten Raum wird zum Vorschein auf das Reich Gottes.

Wer sich nach dem ersten Staunen umdreht und zurückblickt, sieht an der Rückwand eine Darstellung des Kreuzwegs Jesu, in Schwarz-Weiß und in groben, andeutenden Pinselstrichen gehalten, fast im Stil eines Comics: Gefangennahme, Verrat, Folter, Hinrichtung, Todesurteil, Kreuz. Das ist die Welt, aus der die Gottesdienstbesucher in die Kapelle kommen. Sie suchen Schutz vor dem Grauen der Welt und müssen sie doch nach der Abendmahlsfeier wieder in dieser Richtung verlassen. Mit dieser Kapelle hat es der Atheist Matisse geschafft, nur mit Hilfe von Licht und Farben das darzustellen, was die Glaubenden als beleuchtetes Reich Gottes erwartet.

„Und Gott sah, dass das Licht gut war.“

Liebe Schwestern und Brüder, dieser Sonntag heißt Jubilate. Jubelt alle! Es tut gut, sich gelegentlich an das Licht zu erinnern, das Gott geschaffen hat, trotz des Grauens und des Leidens der Welt.

„Jubilate Deo, omnis terra.“ (Ps 66,1)

Jauchzet Gott, alle Lande. Amen.

Nachbemerkung: Das Thema Licht hat mich zweimal beschäftigt, einmal in einem Aufsatz über das Verhältnis von Fotografie und Theologie, das zweite Mal in einem Aufsatz über die genannte Kapelle von Matisse in Vence. Leider sind nur Fotos von außen möglich (hier von der Kapelle und hier vom Ort Vence), während es untersagt ist, innen zu fotografieren. Eine Google-Bildersuche liefert trotzdem die entsprechenden Ergebnisse.

Wolfgang Vögele, Raum in der kleinsten Kapelle. Über den Maler Henri Matisse, seine ungläubige Theologie und die Ästhetik der Vereinfachung, tà katoptrizómena, Heft 121, Dezember 2019

ders., Lichtblicke. Mutmaßungen über die Ontologie der Oberflächen. Reflexionen über das Verhältnis von Fotografie und Theologie, tà katoptrizómena, H.6, Nr. 134, September 2021

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PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).

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