Jesaja 43, 1-7

Jesaja 43, 1-7

1 Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich
gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
2 Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme
nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht
brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.
3 Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.
Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch
und Seba an deiner statt,
4 weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und
weil ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner statt und Völker
für dein Leben.
5 So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom
Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln,
6 ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht
zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter
vom Ende der Erde,
7 alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen
und zubereitet und gemacht habe.
Jesaja 43,1-7

Liebe Gemeinde!
„Fürchte dich nicht!“ Dieser Zuspruch Gottes aus dem
heutigen Predigttext zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte
Bibel, vom Ersten Buch Mose bis zur Offenbarung des Johannes. „Fürchte
dich nicht!“ So redete Gott mit den Vätern des Volkes Israel,
Abraham, Isaak und Jakob. „Fürchte dich nicht!“ sprach
er zu Mose und Josua.
Dieselben Worte hört im Neuen Testament Maria den Engel sagen,
der ihr ankündigt, sie werde Gottes Sohn zur Welt bringen. Was
hören die Hirten in der Weihnachtsgeschichte ebenso wie die Frauen
am leeren Grab Jesu? „Fürchtet euch nicht!“
Jesus spricht so den Fischer Petrus an: „Fürchte dich nicht!
Von nun an wirst du Menschen fangen.“ Den Apostel und Missionar
Paulus ermutigt in Griechenland eine nächtliche Vision „Fürchte
dich nicht, sondern rede und schweige nicht!“
Und am Ende der Bibel schließlich, in der Vorausschau des Sehers
Johannes auf das Ende der Welt, erklingen die Worte noch einmal: „Fürchte
dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte.“
Gott steht am Anfang und am Ende. An die Anfänge erinnert Jesaja,
der Verfasser des Predigttextes. Er und seine Zuhörer sind schon
in der zweiten Generation im Exil, nach verlorenem Krieg Gefangene der
Babylonier. Doch nun kündigt er die Heimkehr an.
Wie schon die Vorväter aus Ägypten durch Gottes Hand befreit
wurden, so erinnert er, so wird Gott auch nun die Gefangenen und Verstreuten
zurückführen, weil er die Treue hält, die er seinem erwählten
Volk geschworen hat. „Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen
hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn
ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du
bist mein!“
Es ist Absicht, dass Jesaja die Israeliten hier mit dem Namen „Jakob“
anspricht. Denn Jakob ist der Vater der 12 Stämme Israels. Und
es fällt auf, dass die befreiende Tat Gottes in Jesajas Augen bereits
geschehen ist: „Ich habe dich erlöst“, nicht: „Ich
werde dich erlösen“. So sicher ist er. Gott vergisst Israel
nicht. Also fürchte dich nicht.
Und wir heute? Von Gefangenschaft kann bei uns doch keine Rede sein.
So grenzenlos frei sind wir, dass wir Mühe haben, den Überblick
zu behalten. Frei zu wohnen, wo wir wollen, freie Auswahl an Nahrung,
Unterhaltung und Gesellschaft. Jeder Werbeblock im Fernsehen ist eine
Serie von Hymnen an die Freiheit.
Sie merken wahrscheinlich schon: genau da ist der Haken. Das Überangebot
macht mich unsicher. Ist es dort am günstigsten? Oder ist nicht
dies hier viel interessanter? Brauche ich eigentlich noch dies, und
hat womöglich der Nachbar schon das? Und frage ich eigentlich noch
danach, wer die Zeche zahlt für die Annehmlichkeiten, die ich nicht
mehr missen möchte?
Es klingt vielleicht nicht besonders originell, aber ich möchte
die meisten von uns heute als „Gefangene der Freiheit“ bezeichnen.
Die Orientierung geht im Getümmel des allgemeinen permanenten Ausverkaufs
verloren. Es kann passieren, dass ich mich im Supermarkt des Lebens
verirre, wie ein Kind, das zwischen den Regalen auf einmal die Eltern
nicht mehr findet.
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe
dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Es tut gut, wenn
uns jemand beim Namen ruft, wenn wir die Orientierung verloren haben.
Ein überfüllter Bahnhof oder Flughafen, oder eine Feier mit
zahllosen Gästen, lauter unbekannte Gesichter – dann tut es gut,
einen Bekannten zu entdecken, der mich mit meinem Namen anspricht. Der
mir das Gefühl nimmt, allein unter Fremden zu sein.
Heute ist der Sonntag des Taufgedächtnisses. Er soll an die Taufe
erinnern, auch an die eigene. Nicht in dem Sinne, dass ich an die Einzelheiten
zurückdenke, wie es bei meiner Taufe zugegangen ist. Das ist mir
nicht möglich, und ich bin sicher nicht der einzige, der nur noch
ein paar alte Fotos und vielleicht noch bruchstückhafte Erinnerungen
an das hat, was andere mir erzählten.
Nein, der Sonntag heute will mich erinnern, dass ich getauft bin, und
er stellt zugleich die Frage: Was bedeutet es denn eigentlich, dass
ich getauft bin?
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Die
Stimme, die hier spricht, ist mir vertraut. Gott hat sich in der Taufe
an meine Seite gestellt. Bei der Taufe wurde nicht nur mein Name genannt,
sondern ich wurde auch im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes getauft. Mein Name wurde mit Christi Namen verbunden. Und damit
hineingenommen in sein Leben.
Die Taufe bedeutet nicht nur einen ganz besonderen Moment zu Beginn
unseres Lebens. Denn es geht da um unser ganzes Leben. Ein Mensch kann
sich von der Kirche lossagen, kann sich von ihr trennen, ganz austreten.
Wer nicht mehr Mitglied ist, verliert damit bestimmte kirchliche Rechte,
kann z.B. nicht mehr Pate werden oder am Abendmahl teilnehmen. Aber
die Taufe verliert er nicht.
Denken Sie nur an das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn, das ja eigentlich
besser das Gleichnis vom wiedergewonnenen Sohn heißen müsste.
Der Sohn verspielt und verliert, als er sich vom Vater trennt, den ausbezahlten
Erbteil – doch er ist immer noch Sohn.
„Fürchte dich nicht!“ heißt auch: in Kraft meiner
Taufe muss ich keine Angst um mein Leben haben. Ich muss mich nicht
vor Menschen fürchten, auch nicht vor Anforderungen, die mich manches
Mal schier zu erdrücken scheinen. Ich muss nicht fürchten,
zu kurz zu kommen, etwas zu verpassen in dem Supermarkt der grenzenlosen
Freiheit. Gott nimmt mir die Angst um mein Leben. Ich muss mich nur
darauf besinnen, in wessen Namen ich getauft bin.
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ Jeder Mensch trägt
seinen eigenen, unverwechselbaren Namen. Darüber denken wir nicht
groß nach, es geschieht sozusagen automatisch. Und wenn es doch
einmal mehr als einen Willi Müller im Dorf gibt, dann hat er in
der Regel noch einen Zusatz- oder Spitznamen, der für Eindeutigkeit
sorgt. Das ist gut so. Wir können nicht verwechselt werden. Auch
nicht einfach ausgewechselt wie eine Nummer.
Und wenn Gott mich „bei meinem Namen“ ruft, dann ist das ebenso
eindeutig. Er ruft nicht „den Dritten von links“ oder „den
Langen mit dem Bart“, sondern er meint mich, weil er mich kennt.
Mein Name ist ihm vertraut, mein Name ist mit seinem verbunden.
Bei der Taufe werden Vor- und Nachname genannt. Der Familienname sagt,
aus welchem Haus wir stammen, wohin wir gehören, wer unsere Nächsten
sind. Ich brauche niemand zu erklären, wie wichtig die Menschen
sind, die das Leben eines Kindes am Anfang prägen. Wir wissen doch
auch selbst, wie entscheidend unsere Eltern, Großeltern und Geschwister
unser Leben beeinflusst haben.
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“ In
der Vorstellungswelt des Alten Testaments hat die Kenntnis des Namens
oft noch eine magische Dimension. Da ist der Einfluss aus Religionen
der Nachbarvölker spürbar. Namen lassen sich beschwören,
verfluchen, zum Zaubern verwenden. Dann klingt es unheimlich und bedrohlich:
Du bist mein!
Doch der Gott, der diesen Satz spricht, ist ein anderer. Er ist in seiner
Liebe so weit gegangen, uns Jesus Christus zu schicken. Vergessen wir
das bitte nicht. Nach dem Leben und Sterben Jesu Christi kann ich „Du
bist mein“ nur als uneingeschränkte Liebeserklärung Gottes
an mich verstehen. Zwar kann ich das manchmal kaum glauben, wenn ich
in den Spiegel schaue, oder wenn ich abends denke, was ich den Tag über
anders oder besser getan hätte, aber es ist so: Gott sagt „Du
gehörst immer noch zu mir.“
Ein Letztes. Und es fällt mir zugleich leicht und schwer, es zu
sagen. Wenn uns dieser zentrale Satz des Predigttextes „Ich habe
dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein“ wahrscheinlich sehr
vertraut klang, liegt es sicher daran, dass er am Anfang jeder Trauerfeier
bei einem Begräbnis steht. Aber heute, am Sonntag des Taufgedächtnisses,
möchte ich mit der falschen Vorstellung aufräumen, als hieße
das nichts weiter als: Gott „ruft einen Menschen aus diesem Leben
ab“.
Gott steht am Anfang meines Lebens und am Ende. Und selbstverständlich
auch dazwischen -nämlich „alle Tage“, wie es der auferstandene
Jesus seinen Jüngern im heutigen Evangelium versprochen hat. Und
deshalb: Fürchte dich nicht! Amen.

Peter Kusenberg Pastor und freier Journalist
e-mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de

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