Jesaja 55:6-13

Jesaja 55:6-13

Sexagesimae, 11.02.2007

Predigt zu Jesaja 55:6-13, verfasst von Werner Grimm


Liebe Gemeinde!

„Ja, heißt das eine Wörtlein, das andre heißet nein; die beiden Wörtlein schließen die ganze Welt mir ein“ – so stellt sich der sehnsüchtigen Liebe eines jungen Mannes die Frage von Sein oder Nichtsein. Und vielleicht ist diese Frage aus Schuberts „Schöner Müllerin“ überhaupt die Grundfrage unseres Lebens. Erfahre ich, was mir in der Begegnung mit der Welt Tag für Tag widerfährt, als eine Bejahung meiner Person: „Schön, dass du da bist“? Oder erfahre ich die Begegnungen mit der Welt als eine einzige Verwerfung: Nein, dich bräuchte es nicht zu geben…? Ein Ja oder Nein in dieser Frage entscheidet mit, ob wir glückliche oder unglückliche Menschen sind. Und insofern gehört der Selbstzweifel konstitutiv zu unserem Dasein.

Wie aber trifft uns Gottes Wort an im Hangen und Bangen zwischen Ja und Nein? Wo Er seines Volkes Israel Hangen und Bangen zwischen Ja und Nein anspricht, im 55. Kapitel des Jesaja-Buches, da spricht JHWH laut hebräischem Text ein vierfaches kräftiges Ja, und es ist die Vier in der Heiligen Schrift die symbolische Zahl für etwas Ganzes, Umfassendes. Viermal also sagt JHWH ein strahlendes, uneingeschränktes Ja zu seinen Menschen – bezogen auf ihre typischen Selbstzweifel, bezogen auf vier Arten von Nein, wie wir sie aus dem eigenen Herzen kennen.

Ich setz den ersten Fall – eine schwarze Stunde der folgenden Art: Es rutschte uns in der Wut ein böses Wort heraus; wir ließen uns hinreißen; die Sache eskalierte, und allmählich dämmerte uns, dass wir einem Menschen Schaden oder gar Leid zugefügt haben. Nun droht Gefahr aus zwei entgegengesetzten Richtungen.

Von der einen Seite die Verdrängung: Ich schiebe die Schuld schnell wieder weg von mir. Ich rede mir zig Umstände ein, die mich entlasten, und ich schiebe die Hauptverantwortung für das, was passiert ist, doch wieder dem von mir Verletzten zu – alles, um irgendwie wieder mein inneres Gleichgewicht zu erlangen.

Oder Gefahr von der anderen Seite: Ich erschrecke bis ins Mark über mich selbst: Ich habe durch meine eigene Schuld alles kaputt gemacht. Es ist nicht wiedergutzumachen, was ich anrichtete. Es kann dann sein, dass ich die Selbstanklage noch vertiefe und bei einer bestürzenden Selbsterkenntnis ende: So gut, wie ich es mir immer einbildete, bin ich ja gar nicht. So altruistisch, wie man’s mir nachsagt, empfindet meine Seele gar nicht. Sie lässt sich kränken, man kann sie verletzen, und dann geht es auch mir um meine Ehre und möchte auch ich Recht bekommen, und manchmal hege ich dann ganz böse, feindselige Gedanken. Und dann rühre eben auch ich mit am Bösen, das in der Welt geschieht. Jetzt zweifle ich an meinem Charakter und Wert meiner Person. Und dann kann es passieren, dass ich mich in einer totalitären und völlig unversöhnlichen Weise selbst verdamme. Dann sage ich: Nein, das Leben hat für mich keinen Sinn mehr. Ich ergebe mich in die Schwärze des Schuldgefühls, in die erdrückende Schwermut. Ich schließe die Fenster nach draußen zu – gegen jeden Sonnenstrahl, der mich noch anlachen könnte.

Aber Gottes Wille ist das nicht. Seine Gerichte sind nicht auf ewige Verdammnis angelegt, sondern auf Zeit und auf das Einsichtig-Werden der Gerichteten. Sie wollen dem Leben eine neue Chance geben. Dem Schuld-bewusst-Gewordenen erneuert Gott sein Ja – mit den Worten des Propheten:

„Suchet JHWH, da er sich finden lässt; ruft ihn an, da er nahe ist. Es verlasse der Frevler seinen Weg und, der Böses tat, lasse ab von seinen Plänen. Er kehre doch um zu JHWH, und Er wird sich über ihn erbarmen. Er kehre um zu unserem Gott, JA, Er zeigt sich groß im Vergeben.“ (55,6-7)

Ich setz einen zweiten Fall – auch er hat eine bestimmte Vorgeschichte. Sie hat mit einem Hang des menschlichen Herzens zu tun, sich die Dinge gefügig zu machen und die Welt nach den eigenen Vorstellungen so weit als möglich umzumodeln. Da meinen wir dann zu wissen, wie unser Leben aussehen soll. Und meinen, das ist machbar, wenn wir nur richtig planen. Und also nehmen wir z.B. den Terminkalender zur Hand und gegebenenfalls einen Lebensgefährten zur Brust und „planen durch“: eine Woche, einen Monat, vielleicht Jahre. Und solange alles nach Plan verläuft und gelingt und solange alle mitspielen und solange sich die entgegenstellenden Probleme lösen lassen – so lange redet mancher auch gern von Gottes Führung, wie gut Er es wieder gefügt habe. Aber wie, wenn Nicht-Eingeplantes unseren Plan gefährdet? Eine Krankheit, auf die wir nicht gefasst sein konnten; ein nicht gesuchter, aber Energien fressender Konflikt; ein Leid, bei dem wir gefragt werden, ob wir wohl beistehen wollen. Das hieße aber, den Tagesplan zu suspendieren; wir können dann nicht einfach weitermachen im Text! Oder: Ein Mensch, der bisher im Sinne unseres Plans funktioniert hatte, jetzt aber nicht mehr. Jetzt bräuchte er umgekehrt mich für sich. Nicht eingeplant!

Wenn wir dann nur vorübergehend unsicher sind und uns, flexibel genug, auf die neue Situation einstellen können, dann haben wir eine glückliche Natur. Aber geraten wir nicht oft in totale Verwirrung, wenn der Plan durchkreuzt ist? Und bekommen regelrecht Angst – Angst vor dem drohenden Chaos in meinem Leben. Angst, die Anforderungen und Ansprüche an mich und die Aufgaben nicht mehr bewältigen zu können? Nein, sage ich dann: Mit Gott rechne ich nicht mehr. Ziele – nein, ich gehe keine mehr an. Und stattdessen „lasse ich mich gehen“.

Aber Gott bleibt bei seinem Ja. Sagt mir durch den Propheten: Viele deiner Pläne, und nicht nur die eigensüchtigen, werden durchkreuzt. Manches Ziel, das du dir setztest, wirst du niemals erreichen. Aber mein Heilsplan für dich – er steht. Und wo du einen deiner Pläne zerbrechen siehst – es könnte sein, dass ich dich gerade da im Sinne meines Plans mit dir ein erhebliches Stück weitergebracht habe. Und am Ende wirst du es schauen und wirst meine Logik erkennen. Im Originalton Jesajas, 55,8-9:

„Ja, meine Pläne sind nicht eure Pläne,
und eure Wege sind nicht meine Wege.
Wie der Himmel hoch über der Erde ist,
so hoch sind meine Wege über euren Wegen
und meine Pläne über euren Plänen.“

Eine dritte Art von menschlichem Nein ist der nagende Zweifel am Durchsetzungsvermögen des Wortes Gottes in der Welt.

Gerade unter uns, die wir noch zur Kirche halten, geht die Klage um: „Nichts richtet es aus, Gottes Wort. Schaut doch die vielen leeren Bänke im Gottesdienst. In diesen heilgen Hallen kennt man die Fülle nicht, wenn nicht gerade ein außerordentlicher event wie Strohfeuer zum Himmel lodert und eine vorübergehende Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das Wort Gottes an sich – sonderlich viel Eindruck scheint es nicht mehr zu machen. Nein, wirklich nicht“, nagt der Zweifel.

Und wieder kontert Gott mit einem Ja mitten hinein ins Herz des Zweiflers. Er weist uns darauf hin, dass sein Wort ja nicht einfach deckungsgleich ist mit dem Wort einer armseligen Sonntagspredigt. Es ist doch einiges mehr! Es ist doch sein Schöpferwort, mit dem Er Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn. Manchmal bekommen wir sogar so etwas wie ein leuchtendes Zeichen dafür, dass Er schöpferisch tätig ist, dass Er schöpferisch hineinredet ins Weltgeschehen – in den nicht mehr für möglich gehaltenen Wundern der Geschichte. Denken wir nur an den Abbau der Apartheid in Südafrika, an den Fall der Berliner Mauer, an den Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten. Sollten wir also nicht doch weiter hoffen für die Völker, die aus den Kriegswirren nicht herauszukommen scheinen? Für die Länder in Afrika, die schon am Verdürren sind? Für unser Land: dass es in allen Zerreißproben dieser Zeit doch wieder zu einer allseits humanen Gesellschaftsordnung findet, in der auch die Schwachen Bleiberecht und eine Aufgabe haben? Der Prophet jedenfalls lenkt die Aufmerksamkeit auf das schöpferische Wort Gottes und seine unerschöpflichen Möglichkeiten, Menschen zu bewegen und Entwicklungen zu lenken. Folgendes spricht der Ewige durch den Mund Jesajas:

„Ja, wie der Regen herabkommt vom Himmel und dorthin nicht zurückkehrt, es sei denn, er habe die Erde getränkt, sie schwanger gemacht und sie sproßen lassen und Samen dem Sämann gegeben und Brot dem, der essen möchte, so wirkt mein Wort, das von meinem Munde ausgeht: Es kehrt nicht unverrichteterdinge zu mir zurück, sondern es vollbringt gewiss, was ich will, und bringt zustande, wozu ich es gesandt habe.“ (55,10-11)

Es gibt ein viertes Nein, mit dem wir uns dem Leben verweigern: das Nein der Weltuntergangspropheten. Es hört sich so an: Der count down läuft. Schaut doch nur hin! Weder ein Volk als ganzes noch gar die Menschheit wird Vernunft annehmen. Die unersättliche Gier der Habenden hat mit der Aufheizung der Erdatmosphäre, dem Atommüll und der Vergiftung des Wassers unumkehrbare Tatsachen geschaffen. Und nun sagen die Schwarzseher in drei Varianten Nein:

Der erste Typ steigt aus nach dem Motto: „Rette sich, wer kann!“. Er versucht von dem ins Verderben fahrenden Zug abzuspringen und seine Haut in irgendeine Nische zu retten. Der Aussteiger wird nur mit Bio-Zertifikat versehene Nahrungsmittel einkaufen. Er wird sich aus manchen Spielchen unserer Gesellschaft mit Verachtung zurückziehen. Vielleicht, wenn er sich’s leisten kann, sein Auto verkaufen. Sich lieber mit Hartz IV abspeisen lassen, statt zur Rudelbildung um die spärlich gesäten Arbeitsplätze beizutragen. Er wird mit Nordic-Walking und Gesundheitstee jedenfalls seinen Körper pflegen – vielleicht hält ja die Welt doch noch bis zu seinem 100.Geburtstag.

Der zweite Typ nimmt für sich mit, was noch mitzunehmen ist – nach dem Motto: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“. Wenn die Welt denn schon zum Teufel geht und ich mit ihr, so will ich doch bis dahin das Leben noch ausbeuten, und dabei nehme ich keine Rücksicht. Die nimmt er nicht einmal gegen die eigenen Enkel.

Und dann haben wir noch, drittens, den Selbst-Gerechten. Er hält’s mit den Zeugen Jehovas. Zwar geht die Welt zum Teufel und alle Bösewichter fahren in die Hölle. Aber ich gehöre zu den 144 000 Supergerechten, deren Seele Gott retten und in sein ewiges Reich nehmen wird.

Der Prophet wendet sich in der besagten Stunde mit einem Gotteswort und vierten Ja gegen alle drei – gegen die Aussteiger, gegen die Ausbeuter und gegen die Ausschließlichen. Er bestreitet alle unsere Erlösungsträume, in denen nur wir vorkommen und nicht auch unsere Brüder und Schwestern: Menschen, Tiere und Pflanzen. Ja aber sagt er zu einer Sehnsucht, die diese alle einschließt. Schlussendlich gerettet werden durch die Macht der Liebe nicht Aussteiger, sondern solidarisch Mitleidende. Gerettet werden durch die Macht der Liebe nicht die Gerechten ausschließlich, sondern die Erlösungsbedürftigen miteinander. Gerettet wird durch die Macht der Liebe nicht die Menschheit unter Niedertrampeln der Pflanzen und Tiere, sondern – ich zitiere ein viertes Mal den Propheten:

„Ja, in Freude sollt ihr ausziehen und in Frieden geleitet werden.
Die Berge und Hügel sollen vor euch in Jubel ausbrechen,
alle Bäume des Feldes sollen in die Hände klatschen.
Statt des Dornbusches wächst Myrte.
Und das wird JHWH zur Ehre geschehen,
zum ewigen, untilgbaren Zeichen.“ (55,12-13)

Amen.

Dr. Werner Grimm
Stuttgart
bernius-grimm@T-Online.de

Übersetzung des Textes nach:
Werner Grimm, Das Trostbuch Gottes, übersetzt und mit Anmerkungen versehen, in Zusammenarbeit mit Kurt Dittert, Stuttgart 1990

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