Johannes 16, 23

Johannes 16, 23

(Die folgende Predigt wird in einem Universitätsgottesdienst
in der Schloßkirche der Universität Bonn gehalten. Im Gottesdienst
wird die Kantate BWV 124 „Meinen Jesum laß ich nicht“ von
J. S. Bach aufgeführt. Die Predigt bezieht sich auf die Kantate,
aber im Zusammenhang mit dem Perikopentext.)

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater in meinem
Namen um etwas bittet, wird er’s euch geben. Bisher habt ihr in
meinem Namen noch nie um etwas gebeten. Bittet, so werdet ihr empfangen,
damit eure Freude vollkommen sei.

Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Zeit, dass ich nicht
mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen
von meinem Vater. An jenem Tag werdet ihr bitten in meinem Namen. Und
ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten will; denn
er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt,
dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und
in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.

Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der
Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Liebe Gemeinde,
die Abschiedsfeier neigt sich ihrem Ende zu; gleich wird er noch für
seine Jünger beten, dann werden sie hinausgehen in die Nacht, sein
Ende ist nahe. In Bildern und Gleichnissen hat er ihnen ihre Lage erklärt,
hat ihnen seine Bedeutung für sie noch einmal deutlich gemacht,
vom Weinstock gesprochen und von Weg, Wahrheit und Leben, das alles sei
er für sie jetzt und in Zukunft; nun ist es Zeit, zum Schluß zu
kommen.
Sie sollen sich an seinen Vater wenden im Gebet, wenn er nicht mehr da
sein wird, denn – er hat lange gezögert, aber nun sagt er
es endlich: Er geht zum Vater, er wird sterben und nicht mehr unter ihnen
sein, er wird sie nicht mehr ermuntern und ermutigen können.

Liebe Gemeinde,
Dieser Abschied Jesu von seinen Jüngern hat sicher stattgefunden,
ob so oder anders, wir wissen es nicht; jedenfalls ist der Abschied offenkundig
nicht folgenlos geblieben; die Gemeinschaft derer, die an Christus glauben,
ist immer weiter gewachsen und wächst auch heute weiter, in verschiedenen
Teilen der Welt, und auch hierzulande wirkt Christus weiter in den Herzen
vieler Menschen, in Gemeinden und Gruppen.

Wie konnte aus einem solchen Abschied, aus Ende und Tod ein solcher Neuanfang
entstehen?
Vernehmen wir zuerst ältere Zeugen, hören wir, wie die Dichter
und Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts den Abschied gestalteten;
denn auch sie verarbeiteten den Abschied von Jesus in Texten und Tönen
ihrer Zeit; ein Schulrektor aus Zittau in der Oberlausitz, Christian
Keimann, hat das Lied „Meinen Jesum laß ich nicht“ kurz
nach dem Dreißigjährigen Krieg gedichtet, am Anfang der Epoche,
die wir den älteren Pietismus nennen, und von J. S. Bach, etwa siebzig
Jahre später, stammt die Musik zu dieser Kantate:

„Meinen Jesum laß ich nicht,
weil er sich für mich gegeben,
so erfordert meine Pflicht,
klettenweis an ihm zu kleben,
Er ist meines Lebens Licht,
meinen Jesum laß ich nicht.

Solange sich ein Tropfen Blut in Herz und Adern reget, soll Jesus nur
allein mein Leben und mein alles sein. Mein Jesus, der an mir so große
Dinge tut, ich kann ja nichts als meinen Leib und Leben ihm zum Geschenke
geben.

Und wenn der harte Todesschlag die Sinnen schwächt, die Glieder
rühret, wenn der dem Fleisch verhaßte Tag nur Furcht und Schrecken
mit sich führet, doch tröstet sich die Zuversicht: ich lasse
meinen Jesum nicht.“

Liebe Gemeinde,
fast siebzehnhundert Jahre nach dem Abschied Jesu von seinen Jüngern
drücken diese Gesänge eine intensive Nähe zu Jesus aus,
die man nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts wirklich nicht mehr erwarten
konnte. Hatten sich die Völker Europas nicht blutig geschlagen um
die richtige Gestalt des Glaubens, oder war es doch nur Machtpolitik
gewesen, für deren Interessen die Religion wieder einmal die äußerliche
Begründung liefern mußte wie oft zuvor und auch seitdem noch
häufiger?

Aber vielleicht kann man es auf dem Hintergrund solcher Machtkämpfe
durchaus verstehen, dass sich ernsthafte Christen auf den Kern ihres
Glaubens besannen und in barocker Sprachfülle davon schwärmten,
sich nur noch an Jesus zu orientieren und an sonst keiner Autorität:

„Mein Jesus, der an mir so große Dinge tut, ich kann ja
nichts als meinen Leib und Leben ihm zum Geschenke geben.“

Soweit kann man dem Text gut folgen, dann aber wendet sich der Dichter
in einer Richtung, die man heute als Vertröstung auf ein besseres
Jenseits problematisch empfindet, als ob er sich der Nähe Jesu nicht
mehr sicher gewesen sei: Der Autor des Kantatentextes wendet den Abschied
Jesu von seinen Jüngern um in einen Abschied des Frommen von der
Welt um Christi willen. Weltflucht als Nachfolge. Hören Sie selbst:

„Doch ach! welch schweres Ungemach empfindet noch allhier die
Seele. Wird nicht die hart gekränkte Brust zu einer Wüstenei
und Marterhöhle bei Jesu schmerzlichstem Verlust? Allein mein Geist
sieht gläubig auf und an den Ort, wo Glaub und Hoffnung prangen,
allwo ich nach vollbrachtem Lauf dich, Jesu, ewig soll umfangen.

Entziehe dich eilends, mein Herze, der Welt, du findest im Himmel dein
wahres Vergnügen. Wenn künftig dein Auge den Heiland erblickt,
so wird erst dein sehnendes Herze erquickt, so wird es in Jesu zufriedengestellt.

Jesum laß ich nicht von mir,
geh ihm ewig an der Seiten;
Christus lässt mich für und für
zu den Lebensbächlein leiten.
Selig, der mit mir so spricht:
Meinen Jesum laß ich nicht.“

Liebe Gemeinde,
der Text hört sich nach Weltflucht an, „Entziehe dich eilends,
mein Herze, der Welt“, – und das erlebt man ja immer wieder beim
Abschied: Nimm mich doch mit, laß mich nicht allein zurück;
aber die Musik spricht eine andere Sprache … pralle Zuwendung zur Welt,
kunstvolle Interpretation schwieriger Passagen … der ‚vollbrachte
Lauf’ hört sich in der musikalischen Gestaltung nicht nach
Ende an, sondern nach einem andauernden Streben und Ringen, nach Sichten
und Suchen in dieser Welt; so ist Jesus offenbar auch von seinen Jüngern
beim Abschied verstanden worden: Nicht: Kommt mit mir weg von allen Versuchungen
und Herausforderungen in der Welt, nein, das gerade nicht: Bleibt da,
kümmert euch um die Welt, um die Menschen, die euch brauchen! Ihr
wißt, was Ihr zu tun habt, worauf es ankommt!

Es hat ja immer wieder religiöse Führer gegeben, die ihre
Anhänger mit in den Tod nahmen, um sie der bösen Welt nicht
aussetzen; ein psychologisch verständlicher, aber für die Betroffenen
natürlich verhängnisvoller Vorgang.

Ganz anders Jesus: Daran werden die Menschen erkennen, dass Ihr meine
Jünger seid, dass Ihr euch untereinander liebt! Bleibt in der Welt,
auch wenn ihr Angst habt; ich habe die Welt schon überwunden, ich
habe Gedanken in die Welt gebracht, die sich nicht mehr auslöschen
lassen. Ich habe mich für die Liebe als Gestaltungskraft in allen
Lebensverhältnisse eingesetzt, auch wenn das viele für gefährlich
halten und mich deshalb verfolgen; wie die Liebe für Kinder bei
ihrer Ankunft in diesem Leben den Boden bereitet, so gewinnt auch der
Abschied erst durch Liebe menschliche Tiefe. Auch wenn er noch so wehtut,
liebevoller Abschied entlastet auch. Es ist gut, wenn die Kinder aus
dem Haus gehen können, gerade wenn sie eine freundliche Erziehung
in der Familie erlebt haben; gerade dann ist der Abschied der Weg der
Klarheit und des Lebens, denn ohne Abschied können sie sich nicht
weiter entwickeln.

Wie bedrängend das Problem des Abschieds am Lebensende noch werden
kann, ahnen wir inzwischen; denn die Perspektive hat sich seit dem 18.
Jahrhundert gründlich umgekehrt: Weltflucht, falls sie je dominierte,
ist zurückgetreten, Weltsucht herrscht. Lebensverlängerung
wird gefordert, koste es, was es wolle, Gesundheit ist das höchste
Gut – und es gibt kaum eine Möglichkeit, den Abschied aus diesem
Leben mit Würde und liebevoll zu gestalten, weil man sonst um einen
humanen Umgang mit Leben insgesamt fürchten müßte.

Obwohl in den Kliniken wegen begrenzter materieller Möglichkeiten
immer wieder über Leben und Tod entschieden werden muß, obwohl
in den Hospizen und Pflegeheimen schon längst vielfach ein milder
Abschied gestaltet wird, ist eine öffentliche Diskussion über
eine sinnvolle Gestaltung des Lebensendes erst in Ansätzen möglich.

Dabei wird schon längst Tod zugelassen, der noch zu verhindern
wäre, wenn die technischen Möglichkeiten ausreichten oder die
Organspenden ausgeweitet werden könnten. Und deshalb müssen Ärzte
längst schon den Abschied auch von jungen Patienten bewußt
verantworten, deren Krankheit technisch und finanziell nicht mehr zu
behandeln ist. Es muß nicht wundern, dass Überlegungen aufkommen,
die Sterbenlassen und Töten ineinander verschwimmen lassen, aber
es bestürzt trotzdem, wie menschliche Verfügungsmacht über
das Lebensende sich immer deutlicher abzeichnet.

Jedoch: Der Abschied im Tode darf keine Frage selbstherrlicher Entscheidungen
von Menschen über Menschen werden – und er darf nicht vom übrigen
Leben losgerissen werden:
Das schutzlose Leben in keinem Alter der Schutzlosigkeit preisgeben!
Das ist eine der großen Forderungen des Evangeliums von der Liebe
Gottes; und wer sich dieser Forderung stellt, wird gerade nicht auf das
bessere Jenseits vertrösten, damit der Abschied nicht schwer fällt,

sondern nach Lebensformen suchen, wie auch schutzloses Leben begleitet
werden kann, zu weiterem Leben oder bei einem Abschied in Würde,
gerade wenn die finanziellen Mittel nicht weit reichen sollten.

Auf dem ökumenischen Kirchentag in der kommenden Woche wird die
Frage eines menschenwürdigen Lebens und Sterbens nicht von ungefähr
zur Diskussion stehen, dabei wird auch über neue Formen des Zusammenlebens
nachgedacht, die das hinfällige Leben nicht nur mühsam und
unter großen Menschenopfern verwahren, sondern in das allgemeine
Leben einbeziehen.

Solche Fragen gemeinsam bedenken, beweist mehr Kraft christlichen Geistes
in der Ökumene als irgendeine Entscheidung über die verschiedenen
Auffassungen des Abendmahls oder das Leiden an der mangelnden Einheit.

Liebe Gemeinde,
Im Gebet besinnen wir uns gemeinsam auf Gottes Güte, die uns unser
Leben gegeben hat. Aus solcher Besinnung erwachsen immer wieder Gedanken,
die zu einem humanen Umgang mit dem Leben bis zu seinem Ende führen.
Denn die Besinnung auf Gottes Güte lockert die Bindung an die zentralen
Mächte unseres Lebens, Geld und Gesundheit. Auch wenn die kirchliche
Diakonie in der Gegenwart sich mit diesen beiden Mächten heftig
auseinandersetzen muß, so bleibt als Grundlinie aller christlichen
Liebestätigkeit eben doch die Liebe Christi zu seinen Jüngern,
die er bewahrt hat bis ans Ende.

Haben wir den Vater bisher um nichts gebeten? Oh, schon oft, habe ich
für meine Kinder gebeten, dass sie gut in dieses Leben hineinwachsen
dürfen, – inzwischen bete ich auch für den Abschied meiner
hochbetagten Angehörigen und derer, die mir nahestehen, aber immer
zugleich im Blick auf meinen eigenen Abschied aus dieser Welt: Vielleicht
führt die Verbindung vieler Christen im Gebet und im Vertrauen auf
Gott schon bald zu größerer öffentlicher Aufmerksamkeit
für die Formen, den Abschied zu leben,
Lebensformen, die Gottes Liebe in unserem Leben Gestalt werden lassen
und die praktiziert werden in Familien, Hospizen und Heimen. Die Phantasie
ist ja schon längst rege tätig zu suchen, wie wir miteinander
im Leben und im Sterben wohltätig umgehen können, die Lasten
teilen und verteilen, die das Leid, auch das Leid der Vergänglichkeit,
mit sich bringt; die Behinderung durch die Gedanken an Wachstum und Wohlstand
sind in den Herzen vieler Menschen gelockert, ohne dass sie deshalb aus
dieser Welt zu fliehen.

Es wird sicher keine rauschende Mehrheit sein, die sich dem Ruf Jesu
anschließt, aber ich könnte mir denken, dass bald auch öffentlich
wieder deutlicher wird, wie viele Menschen täglich in den Ruf der
Sehnsucht nach Gemeinschaft in Liebe einstimmen – und sich dazu
auf Jesus berufen: „Er ist meines Lebens Licht, meinen Jesum
laß ich nicht!“ Amen.

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn
E-Mail: R.Schmidt-rost@web.de

 

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