Johannes 3,1-8

Johannes 3,1-8

Predigt zu Johannes 3,1-8, verfasst von Hans Joachim Schliep


31Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden. 2Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. 8Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist. (Johannes 3,1-8)

Liebe Gemeinde!

Es war eine ganz gewöhnliche Nacht. Hatte Paul geträumt? Oder
war er nur außergewöhnlich wach gewesen? Paul erinnerte sich
nicht mehr. Nur eines wußte er noch: Plötzlich war ihm klar geworden,
sein Leben würde sich nicht mehr entscheidend verändern, es würde
in den Bahnen, in denen es jetzt verlief, weiterverlaufen. Er war nicht
erschrocken darüber. Schließlich hatte er ein gesundes Selbstbewußtsein.
Und wie er so lebte, wozu er es inzwischen gebracht hatte, das war schon
in Ordnung. Aber immerhin hatte er noch nie sein Leben so aus einem Abstand
heraus, so klar gesehen.
Es war wenige Tage vor Pauls 53. Geburtstag. Geboren war er 5 Jahre nach
Kriegsende, in einer thüringischen Kleinstadt. Sein Vater starb viel
zu früh: schon wenige Monate, nachdem die Familie die Flucht aus der
DDR – kurz vor dem Mauerbau – geschafft hatte. Dem Vater, der nach russischer
Kriegsgefangenschaft als kranker Mann seine Frau in Thüringen wiederfand,
hatte keinen Weg mehr gefunden, sich eine neue Existenz im „Westen“
aufzubauen. Auch seine Mutter war sich hier immer fremd vorgekommen. Er
aber hatte sich durchgekämpft: erst Realschule, dann schwere Jahre
als Bauarbeiter, dann das Abitur in Abendkursen und das Studium. Jetzt war
er Ingenieur, mit Diplom – er baute Brücken.
Statt des 53. Geburtstags sollte einen Monat später der 25. Hochzeitstag
groß gefeiert werden. Ja, Paul war seit fast 25 Jahren verheiratet:
Silberne Hochzeit. Seine Frau und er überlegten noch, ob sie dazu auch
in die Kirche gehen sollten. Die Tochter war jetzt schon 22, der Sohn, ein
Nachkömmling, gerade 13 Jahre alt. Vor drei Jahren erst hatten sie
ihr eigenes Haus beziehen können, nach eigenen Plänen gebaut.
Die Kinder hatten dafür gesorgt, daß er seine Zeit nicht nur
im Baubüro zubrachte. Er hatte gleich in einer Bürgerinitiative
zum Aufbau des neuen Wohngebiets mitgemacht. Auch der Kirchengemeinde hatten
sie schon geholfen beim Umbau der Kirche, und in diesem Jahr würden
sie im Sommer zwei Kinder aus dem verstrahlten Gebiet um Tschernobyl bei
sich aufnehmen. Gewählt hatte Paul mal so, mal so. Bei der letzten
Wahl war er der Meinung, es müsse doch bei dem >Projekt Rot-Grün<
bleiben, trotz aller Probleme, die er mit dieser Regierung hatte. Selbst
für eine Öko-Steuer hatte er inzwischen Sympathien. War Paul stolz
auf sein Leben? Eigentlich nicht. Aber irgendwie zufrieden. Er hatte ja
auch kein anderes, und es würde eben nicht mehr viel anders werden!
Doch da war jene Nacht. Ihm war, als sei dieses Leben nirgendwo registriert,
als sei es vergangen, wenn er es mit ins Grab genommen hätte. Es war
ein Gefühl, als hätte er seinen Personalausweis vorgelegt und
seine Identität sei nicht anerkannt worden. Gewiß, sein Leben
war nicht bedeutender als das anderer, es war aber auch nicht unbedeutender.
Er wollte nicht unbescheiden sein. Aber irgendwo mußte es doch anerkannt
werden, schließlich war es sein Leben. „Oder bin ich ein ganz
anderer als der, den ich kenne?“
Gab es noch ein zweites Leben? Seit jener Nacht ertappte Paul sich immer
wieder bei dem Gedanken, er müsse ein zweites Leben haben, das ihm
selbst noch unbekannt war. Es gab jetzt häufiger Augenblicke, in denen
er auf der Suche nach diesem Leben war, nach diesem anderen Menschen, der
doch niemand anders war als – er selbst. Manchmal freilich schoß es
ihm durch den Kopf, es hinge alles gar nicht von seinem Suchen, von seinem
Nachdenken, von seinem Zupacken ab, ein anderer Geist müsse noch einmal
kräftig durch sein Leben wehen, der ein Vertrauen stifte, das eben
einfach da sei und nicht konstruiert oder kalkuliert werden könne…
Wieviel hatte er von der Leistung, die sein Beruf ihm abverlangte, allein
der Liebe seiner Frau zu verdanken?! Bei diesem Gedanken war Paul irgendwie
gerührt, obwohl er sonst Rührung vor sich selbst verbarg. Wann
hatte er seiner Frau zuletzt einen Blumenstrauß mitgebracht, einfach
so?
Wie wütend wäre er neulich geworden auf dem Bau, hätte er
sich am Abend vorher nicht so sehr über das ruppige Kompliment seines
Dreizehnjährigen gefreut: „Du bist doch noch ganz fit und vor
allem sportlich immer noch gut drauf!“
Paul erschrak über seine Neigung, die eigenen Fähigkeiten herauszustellen
– und überlegte, wieviele Menschen ihm im Laufe eines Tages trotzdem
freundlich begegneten, ja, wieviele Mitarbeiter sich von ihm sogar gelegentlich
einen persönlichen Rat holten. Und jetzt meldeten sich alte Freunde
wieder, aus der christlichen Jugendgruppe, der er aber nur kurze Zeit angehört
hatte: Ob man sich nicht einmal wieder treffen wolle?
Mußte es sein, daß seine Frau sich schon kurz nach dem Umzug
in den Kirchenvorstand wählen ließ? Das Amt der Elternbeiratsvorsitzenden
hätte doch gereicht! Aber immerhin, das gab er zu, Erziehungsfragen
waren seitdem – schon vor PISA – interessant geworden, und wenn seine Frau
in der Kirche „Dienst“ hatte, begleitete er sie. Obwohl, er liebte
Musicals, das Singen dieser Lieder aus dem Gesangbuch fiel ihm schwer, und
nie wußte er: Wann mußte man aufstehen, wann blieb man sitzen?

Vor allem aber seine Älteste. Im Umgang mit ihr hatte Paul erfahren,
daß Anbieten, Vertrauen und Schenken gelegentlich Wunder wirken können.
Und dann war der Freund seiner Tochter ein prima Kerl, fast so etwas wie
sein zweiter Sohn. Seine Frau fand diesen jungen Mann von Anfang an sehr
sympathisch. Dabei vergaß er ganz, daß er der Meinung war, seine
Tochter sei eigentlich noch zu jung für die Liebe.
Sind am Ende die „Zweitleben“ der Menschen für das eigene
Leben, ja, für die gute Zukunft des Lebens überhaupt viel wichtiger
als die, die in einschlägigen Lebensläufen aufgeschrieben werden?
Darüber dachte er nach – seit dieser Nacht. „Merkwürdig –
dieses Leben, das man so spät noch zum ersten Mal entdeckt, obwohl
es immer da war, dieses Leben, das man erhält, statt es selbst herzustellen,
das zu einem gehört und das man doch nicht besitzt, das kein anderes
Leben als das eigene ist und doch so anders. Kommt dieses Leben etwa von
ganz woanders? Und seltsam, wie einem dieses >Zweitleben< plötzlich
einfällt, wie man einen ganz anderen, neuen Wind spürt, der einen
durchweht, manchmal auch kräftig durchpustet…“
Vor einigen Tagen kam der Junge maulend aus der Konfirmandenstunde. Die
Vikarin, die doch sonst ganz cool sei, habe die Konfi’s schrecklich gelangweilt
mit so einer alten Geschichte. Wovon sie gehandelt habe, diese alte Geschichte?
Von einem Mann, einem Gelehrten, Nikodemus habe er geheißen und irgendetwas
sei mit einer neuen Geburt gewesen. Noch etwas: die Rede sei auch von einem
Wind gewesen, der habe geweht, wo er wolle. Das sei der Geist gewesen. >Geist<
– hatte der Junge gefragt, was das denn nun wieder sei?! Und warum dieser
Nikodemus denn erstens zu Jesus gekommen sei und zweitens gerade nachts?
Er hatte lange überlegt. Irgendwie, schien ihm, müsse er die Geschichte
kennen. Aber woher?
Heute ist Pauls Frau wieder dran – mit Kirchendienst. Er ist wieder einmal
mitgegangen, ihr zuliebe. Heute ist, schade, nicht die junge Vikarin, sondern
der Pastor, dran. Da sitzt Paul nun – und worum geht es? Ein Mann, der es
zu etwas gebracht hat, kommt zu Jesus, nachts. Und die beiden reden darüber,
ob ein Mensch „neu geboren“ werden kann, auch wenn er schon erwachsen
ist. Das ist doch unmöglich, wendet der gelehrte Nikodemus ein. Eigentlich
möchte er ihm zustimmen. Doch er widerspricht: Es geht schon, wenn
ein Mensch sich seines „Zweitlebens“ plötzlich bewußt
wird. So könnte man das doch auch übersetzen, was Jesus meint
mit dem „Geborenwerden aus Wasser und Geist“. Wann kommt der Pastor
endlich drauf?
Nun ja, vielleicht meint er eben das, wenn er gerade von der anderen Kraft
spricht, die das Leben eines Menschen bestimmt, von dem Geheimnis, das sich
nur zwischen dem einzelnen Menschen und Gott abspielt und das einem meistens
nur in seltenen Augenblicken, nachts zum Beispiel, so richtig klar wird.
Und jetzt sagt er noch: „Die Welt wird weniger durch das in Gang gehalten,
was Menschen ersinnen und vollbringen, als durch das, was ihnen auf ewig
verborgen bleibt. Und Leben, das diesen Namen verdient, ist mehr als >alles
richtig machen<, mehr sogar als >gut sein<; Leben ist geliebt werden.“

Paul weiß gar nicht, ob er an Gott glauben kann. Aber er weiß
nun, es gibt dieses „Zweitleben“ – und auch das muß irgendwo
herkommen und irgendwo hinführen, irgendwo verzeichnet sein, damit
es vor dem Vergessen bewahrt wird.
Jetzt aber laufen Pauls Gedanken in eine ganz andere Richtung. Er hört
den Pastor reden – wie einen Nachrichtensprecher im Hintergrund. Er denkt
dabei an den Konstruktionsfehler, den er in den Bauplänen für
die neue Brücke vorgestern erst entdeckt hat. Wenn der unentdeckt geblieben
wäre – was hätte alles Schlimmes passieren können? Paul,
der Chef-Ingenieur, hätte die Verantwortung gehabt. Hätte er sie
tragen, hätte er sie auf sein Gewissen nehmen können? Schon öfter
hatte er innerlich gezittert bei diesem Gedanken – dann aber wieder auf
die Präzision der Berechnungen und der Technik und auf die Kontrollen
gesetzt. Doch wenn die Kontrollen versagen – wie bei diesem schrecklichen
Zugunglück vor Jahren? Den Gerichtsprozeß hat man ja eingestellt.
Es ist richtig: Man muß nach den Fehlerquellen fahnden, Sicherheit
geht über alles, sie darf nicht den Kosten geopfert werden. Aber –
so fragt Paul sich weiter, während der Pastor immer noch spricht -:
Reicht es aus, wenn die Frage nach der Schuld bloß auf das konzentriert,
ja, reduziert wird, was technisch falsch gemacht oder durch menschliches
Versagen versäumt wurde? Und warum hat er den Fehler bemerkt, andere
nicht? Seit Paul auf sein „Zweitleben“ gekommen ist, kommen auch
solche Fragen – Fragen nach dem Geheimnis des Menschen, dem vom einen Augenblick
zum anderen ein böses Geschick zustößt oder dem ein Glück
zuteil wird, das ihn einfach überwältigt. Solche Fragen werden
doch selten gestellt, denkt er. Kann ein Mensch sie überhaupt beantworten?
Nun bekommt Paul nur noch die Reste der Predigt mit. Irgendwie muß
der Pastor doch genau davon gesprochen haben. Paul hört nur noch, mit
einer solchen abgrundtiefen Frage auf den Lippen sei Jesus Christus gestorben.
Aber Jesus habe diese Frage, habe alle seine Erschütterung, seine Zerrissenheit,
seine innere Unruhe vor Gott ausgebreitet. So sei er in seiner Verlorenheit
sich nicht verloren vorgekommen. So habe er sich einem Leben, einer Kraft
anvertraut, die über seine eigene hinausreichte, in der sein Leben
aufgehoben sei, sein Schmerz ebenso wie sein Glück. Eine Kraft, die
man nur >Gott< nennen könne, weil sie über alles menschliche
Vorstellen und Vermögen hinaus sei, die Zuflucht gewähre hinter
allen unseren Fluchten und allen Flüchen, von denen die Menschheit
besessen sei. Seither wohne Gott auch im Schmerz dieser Welt, wo die ganz,
ganz schweren Ruder gehen, mittendrin auch in den Konstruktionsfehlern,
wo man nur noch schreien kann: „Um Himmels willen!“ – ebenso wie
dort, wo man nur noch staunend rufen kann: „Dem Himmel sei Dank!“.
„Ich werde meiner Frau nachher vorschlagen, daß wir unsere Silberne
Hochzeit auf jeden Fall mit einem Gottesdienst feiern.“, denkt Paul.
Diese Kraft, geht der Prediger zum Schluß über, ist gegenwärtig
in dem Brot und dem Wein, die im Namen Jesu ausgeteilt werden. An ihr kannst
du teilhaben, von ihr kannst du etwas abbekommen in der Feier des Lebens
– deines „Erstlebens“ und deines „Zweitlebens“. Ja,
unser ganzes Leben steht im Licht der Liebe und der Gnade. Und ist bewegt
von einem Geist, den du nicht greifen kannst, der dich aber ergreift in
der plötzlichen Einsicht, daß – selbst wenn die Schrecken und
das Böse das letzte Wort beanspruchen – Gott schon ein anderes, das
aller-letzte Wort gesprochen, dich in der Taufe und im Abendmahl mit dem
aller-gültigsten Namen angesprochen hat: Jesus Christus. In diesen
Namen sind unser aller Namen eingezeichnet, in diesem Leben ist unser aller
Leben anerkannt. Sein Leben ist Ausweis unseres Lebens, unserer Identität.
Das heißt: Am Ende geht es gut aus. Gott führt es herrlich hinaus.

Und wir nun hier in diesem Gottesdienst? Noch vor diesem Ende singen
wir unser Glaubenslied – wie ein Vogel, geweckt vom heraufziehenden Tag,
vom Licht eines neuen Morgens, das in eine gewöhnliche Nacht dringt.

Amen.


Es folgt als Lied der Gemeinde EG 184,1-4: „Wir glauben Gott im
höchsten Thron…“.

Nach einer Idee von H. D. Osenberg: Zeit, die uns bleibt. Meditationen
im Alltag, Hamburg 1975.


Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Fon/Fax 0511 – 52 75 99

E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

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