Kolosser 3,12-17

Kolosser 3,12-17

Farbenlehre des Glaubens | Kantate | 15.5. 2022 | Kol 3,12-17 | Wolfgang Vögele|

Segensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Kantate steht Kol 3,12-17:

„So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.“

Liebe Schwestern und Brüder,

noch nie habe ich es gemocht, in Räumen zu schlafen, in denen die Rolläden heruntergelassen sind. Wenn ich in der Nacht verstört aufwache, möchte ich blinzelnd sehen, ob draußen schon etwas geschieht. Leuchtet der zunehmende Mond mit fahlem Licht? Hat das Morgengrauen schon eingesetzt? Ist es schon so hell, daß ich aufstehen könnte, oder muß ich mir Mühe geben, wieder einzuschlafen?

Am schlimmsten ist es, wenn ich aufwache, kurz bevor der Wecker klingelt, und ich sehe draußen einen grauen, dichten Himmel. Die Wolken hängen so tief und drückend, daß die Spitzen der Kirchtürme sie anpieksen. Grauer Himmel läßt graue Haare wachsen. Ich würde am liebsten weiterschlafen. Und weiß doch, daß ich in fünf Minuten aufstehen muß. Und weiß auch, daß es den ganzen Tag regnen wird. Und weiß, daß ich am Regentag das Haus mehrfach verlassen muß. Und weiß, daß ich jedes Mal durchnäßt zurückkommen werde.

Graue Tage sind die schlimmsten. Aus den Wolken dringt Grau in die Häuser ein, es mischt sich in die Wandfarben. Es verleiht Blumenbeeten und Schaufenstern eine Einheitsfarbe. Und Grau dringt ein in Köpfe und Herzen der Menschen. Besonders schlimm ist es im Frühling, wenn zu früh aufgewachte Schläfer auf knospende Magnolien und schwerfällige Hummeln warten. Wenn sich Regentag an Regentag reiht, sinkt die Laune nach unten in die grauschwarzen Bereiche, die traurig machen.

Bei schlechtem Wetter hängt die graue Wolkendecke tief. Im grauen Alltag erstarrt das tägliche Leben zwischen Tiefkühlpizza und Quizsendungen. Nicht einmal eine Zigarette kann Langeweile und Eintönigkeit vertreiben. Zum Grau der Politik verbinden sich endlose Debatten, Talkshows, Sprechblasen mit grauen Anzügen und farblosen Kostümen. Grau ist eine aufdringliche Farbe, die stets auf große Flächen zielt und auf die Umgebung abfärbt.

Nun will ich aber nicht zu denen gehören, die schwarz malen, aber nur grau schaffen. Graumalerei kann ja auch in Quengelei und ständige Krittelei ausarten. Auch das einheitliche Grau von Regentagen, trostloser Politik und alltäglicher Langeweile wird immer wieder durchbrochen. Durchgraute Tage können sich aufhellen. Der freundliche Gruß der netten Nachbarin, die vielversprechende Wettervorhersage und der Beschluß über die Tempo-30-Zone sowie ein neues Quartiersmanagement, bei dem Verwaltung und Bewohner zusammenarbeiten – all das und mehr kann bunte Farben ins graue Leben bringen.

Der Wechsel vom eintönigen Grau zu bunten Farben bietet sich an für den Kopfsprung in den Glauben und den heutigen Predigttext. Der Kolosserbrief wächst und sprüht aus der Osterfreude. Auferstehung stellen sich glaubende Menschen so vor, daß nach der Katastrophe des Kreuzes und seinem Tod über Christus und der Welt neues, farbiges Licht erscheint.

Maria Magdalena, die Gottessucherin im Garten, hält den Auferstandenen zuerst für den Gärtner, nicht zufällig für einen botanischen Farbkünstler. Sie verwechselt den Auferstandenen mit dem Friedhofsarbeiter, der sich um Blumengestecke auf den Gräbern kümmert. Als Maria Magdalena ihn erkennt, ist sie überwältigt. Und sie läuft davon, um das den anderen in der Gemeinschaft ihres Glaubens jubelnd mitzuteilen. Ostern, die Auferstehung gibt der Welt neue Farben, Farben, die Leiden und Tod überwinden. Konsequent spricht darum der Briefschreiber des 1.Petrusbriefes von den Glaubenden als den „Haushaltern der bunten Gnade Gottes“ (1Petr 4,10).

Auferstehung ist Gnade.

Auferstehung ist Licht.

Und dieses Licht teilt sich in unendlich viele Farben.

Die Haushalter, die das farbige Licht der Auferstehung sehen, staunen darüber. Glaubende wundern sich über die vielen Brechungen des Lichts, das von Ostern her auf die Schöpfung Gottes fällt. Das Licht der Auferstehung setzt die Menschen in Bewegung. Es verwandelt Verzweiflung in neuen Glauben, Angst in Hoffnung und Leid in Freude. Erst Ostern und das Licht der Auferstehung stiften eine schöne neue Welt, die Gottes farbige Barmherzigkeit atmet.

Im Kolosserbrief wird das vom Grauschleier befreiende Osterlicht weiter aufgefächert in eine Serie guter Eigenschaften: „herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld“. Dazu kommen Vergebung, Liebe, Vollkommenheit. Liebe Schwestern und Brüder, ich bin der Meinung, man darf das nicht als Katalog von Forderungen mißverstehen. Niemand soll zu Erbarmen, Sanftmut und Geduld gezwungen werden. Vergeben und Lieben, wenn beides als Zwangsarbeit mißverstanden wird, führen in eigenen Hochmut und zur Abwertung der anderen – und letztlich zu nichts anderem als den grauen Betonwüsten der Bürokratie und den Steingärten des Klerikalen. Nicht umsonst nennt man graue Betonarchitektur Brutalismus. Aber das soll hier nicht Thema sein. Wer glaubt, macht sich auf die Suche nach den Farben des Lebens. Und er wird sie dort entdecken, wo sich Sanftmut, Geduld und Freundlichkeit ausbreiten und wachsen.

Nun haben nicht nur die Briefschreiber des Neuen Testaments, sondern auch antike Philosophen von den Tugenden der Sanftmut, der Freundlichkeit und der Geduld gesprochen. Aber hier ist ein wichtiger Unterschied einzuziehen, der noch heute in dieser ganz anderen, post-modernen Gesellschaft von Bedeutung scheint. Die griechischen Philosophen verstanden Tugenden als individuelle, auf den einzelnen bezogene Fähigkeiten. Der einzelne macht sich selbst in einem langen Prozeß der Bildung seiner Persönlichkeit zu einem besseren Menschen. Christliche Tugenden aber dienen nicht dazu, die eigene Persönlichkeit zu vervollkommnen. Christliche Tugenden sind nicht auf den Handelnden selbst, sondern auf den anderen, den Nächsten ausgerichtet. Freundlichkeit gilt dem Menschen, dem ich begegne und dem ich vielleicht nur lächelnd Guten Tag sage. Mehr nicht, das reicht schon. Erbarmen gilt denen, mit denen ich zusammenlebe. Ich muß nicht immer Recht haben und nicht dauernd meine Meinung durchsetzen.

Bei der Geduld ist es etwas anders: Sie schafft Mitmenschlichkeit und sie rettet mich selbst. Es ist sinnvoll, daß ich Geduld gegenüber anderen übe, aber eben auch gegenüber mir selbst. Für griechische Philosophen sind Tugenden wie ein Meißel. Mit ihm hämmert sich ein Mensch seine Persönlichkeit zurecht. In der Welt des Neuen Testaments sind Tugenden bunte Bänder zwischen Menschen. Diese Bänder stiften Gemeinschaft und Gnade. Sie machen das Leben farbiger, freundlicher und erträglicher.

Der Kolosserbrief faßt das so zusammen: Liebe ist die wichtigste Farbe des Glaubens. Liebe nicht als Haltung, sondern als Tätigkeit, als gemeinsames Leben. Nun wissen Sie wie ich, liebe Schwestern und Brüder, daß es in den Gemeinden oft mit den angesprochenen Tugenden hapert. Das Leben in der Gemeinde ist manchmal bestimmt von Konflikten und Intrigen, von Heucheleien und Streitereien. Es stehen Sitzungen, Strukturen, Haushaltspläne und Sparmaßnahmen gegen Besuche, Gespräche und die Gemeinschaft der Gebete. Oft schiebt sich das Menschlich-Allzumenschliche in den Vordergrund. Niemand wird gerne zugeben, daß ihn die Fehler anderer Menschen mehr beschäftigen als ihre Vorzüge. In vielen Gemeinden herrschen die grauen Farben vor, und die bunten Zwischentöne des Osterlichts werden nicht beachtet. Strukturen triumphieren über Personen. Und die sind nicht nur grau, sondern grauenhaft.

Der Katalog von Tugenden aus dem Kolosserbrief gipfelt in der Liebe. Im Kontext von Ostern, Licht und Farben ausgelegt, bedeutet das keinen moralischen Zwang. Die Tugenden verweisen auf die anderen und geben Hinweise zur Orientierung. Orientieren heißt ursprünglich: sich nach dem Licht der Sonne ausrichten, nach dem Orient, also nach Osten, nämlich dort, wo die Sonne aufgeht. Wer sich orientiert, der weiß, wo das Licht herkommt. Das Sonnenlicht von Osten und das Glaubenslicht von Ostern sind wie ein Kompaß zu verstehen. Wir erhalten eine Landkarte des Glaubens, um dessen gute Wirkungen – von der Geduld bis zur Liebe – zu finden.

Der Kolosserbrief spitzt diese Orientierungshilfe des Osterlichts noch in einem entscheidenden Punkt zu: Singen ist wichtiger als Sprechen. Es heißt: „[M]it Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“ Deswegen heißt dieser Sonntag Kantate – Singt. Gemeinde singt Kinderlieder: Gottes Liebe ist so wunderbar. Gemeinde singt Choralverse: Nun bitten wir den Heiligen Geist. Gemeinde (vielleicht doch nur der Chor) singt Motetten von Johann Sebastian Bach: Singet dem Herrn ein neues Lied. Singt gleich danach eine seiner Kantaten: Was Gott tut, das ist wohlgetan. Singt dann von Felix Mendelssohn: Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir.  Singt dann – jetzt wird es schwerer – aus Arnold Schönbergs „Modernem Psalm“: „Und trotzdem bete ich, wie alles Lebende betet; trotzdem erbitte ich Gnade und Wunder: Erfüllungen.“ Gemeinde singt zur Begleitung von Schlagzeug, Harfen, E-Gitarren, singt zu Flöten und Saitenspiel und zu allen dreiundfünfzig brausenden Registern der Orgel samt den silbrigen Glöckchen des Zimbelsterns. Gemeinde singt mehrstimmig und einstimmig, a capella und mit kleinem Barockorchester oder Posaunenchor. Gemeinde singt auch einmal falsch, zu tief oder zu hoch und kommt aus dem Takt. Trotzdem wird das ganze Leben zum gesungenen Gottesdienst: Gemeinde singt vor dem Mittagessen, unter der Dusche, beim Spazierengehen und vor dem Einschlafen. Gemeinde singt im Kindergarten, beim Altennachmittag und in der Jungschar. Gemeinde singt auch im Pflegeheim, wo demente Menschen mit dünner Stimme summen, woran sie sich gerade noch erinnern. Ich bin übrigens überzeugt: Gott unterscheidet nicht zwischen U- und E-Musik, nicht zwischen unplugged und elektronisch verstärkt. Er hört sich loops und beats und samples an, gleichzeitig Ostinato, Pizzicato, Sforzato sowie Orgelpunkte, Fermaten und Kadenzen. Gott erträgt geduldig schlechte Reime, verstimmte Orgeln, quietschende Geigen und religiös-musikalischen Kitsch. Gott ist kein Musikkritiker. Gott freut sich über jeden Dank. „Danke, ach Herr, ich will dir danken,/ daß ich danken kann.“

Der Schluß der Predigtpassage führt dann zurück an den Anfang: Alles geschehe im Namen Jesu Christi. Ostern, der neue Glaube gibt der Welt neue Farben, die niemand zuvor gesehen hat. Der Brief an die Gemeinde von Kolossae leitet zu einem Blickwechsel an. Wer abends die Nachrichten hört und am Morgen die Zeitung überfliegt, dem präsentiert sich eine Welt, die gelähmt ist von den völkerrechtswidrigen Angriffen der Russen in der Ukraine, von einer globalen Umweltkatastrophe und von der wachsenden Unfähigkeit der Menschen, ihre drängenden Probleme mit klarem Verstand zu lösen. Auch Gemeinden, Familien, Schulklassen verstricken sich in überflüssige Konflikte. Aber niemand wird gezwungen, krampfhaft auf diese Konflikte zu starren und sich darin zu verbeißen wie ein ausgehungerter Kampfhund.

Wer glaubt, der fängt an, auf Konflikte und Reibungen einen anderen Blick zu werfen und neue Perspektiven zu gewinnen. Der Blick von Ostern läßt neue Farben entdecken. Im Licht der Auferstehung verändert sich der ganze Kosmos. Glaube bedeutet neue Farben und Klangfarben, neue Blickwinkel, neue Melodien, neue Energie, um die Probleme der Welt anzugehen. Oder wie es in dem Psalm heißt, der diesem Sonntag Kantate den Namen gegeben hat: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.“ (Ps 98,1) Glaube erreicht sein Ziel, indem er die Osterfarben ernst nimmt.

Liebe Schwestern und Brüder, Sie werden überrascht sein, was passiert, wenn es Ihnen im Glauben zu bunt wird. Amen.

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Wolfgang Vögele

wolfgangvoegele1@gmail.com

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