Matthäus 18,1-14

Matthäus 18,1-14

22. Sonntag nach Trinitatis | 13.11.22 | Mt 18,1-14 (dänische PO) |  Thomas Reinholdt Rasmussen |

Es gibt einen Mann, der hat 100 Schafe. Er hütet sie, aber eines verirrt sich, und er lässt die 99 anderen in den Bergen, um nach dem verlorenen Schaf zu suchen.

Das ist schlechterdings der Kern in unserem Glauben, und das, was man überall zum Ausdruck bringen will: Wie weit Gott gehen will, um uns näher zu kommen. Er will so weit gehen, dass er den Tod am Kreuz erleidet.

Er will bis hinaus in die Wüste gehen, um uns heimzuholen. Um uns nahe zu sein. Um uns in der Liebe zu umfangen. Denn die Bewegung Gottes in die Welt ist das große Wagnis. Das ist der Versuch, uns in der Fülle der Liebe nahezukommen. Das ist das Wagnis, weil die Bewegung Liebe ist.

Das ist der Kern, einander zu wagen, weil man an die Vergebung und die Liebe glaubt. Man weiß sehr wohl, dass man in seinem Wagnis das Ziel verfehlen kann. Man weiß sehr wohl, dass man fallen kann. Aber man wagt es dennoch, weil man an die Vergebung glaubt. Die Vergebung bewirkt, dass man die Liebe wagt,

Wenn wir nämlich nicht an die Liebe glaubten, wer würde es wagen, sich zu bewegen? Dann wären wir gelähmt und verschlossen, denn wer würde einander wagen, wenn es keine Vergebung gäbe?

Wenn es die Vergebung nicht gäbe, dann würden wir uns in lauter Urteile und Unglücke verlieren oder in einem reinen Zynismus enden.

Denn es geht darum, dass wir einander finden. Es ist ansonsten sehr modern zu sagen, dass man sich selbst finden muss. Ich weiß nicht, ob das so furchtbar interessant ist, sich selbst zu finden. Das klingt, muss ich zugestehen, etwas langweilig, denn ist es eigentlich so furchtbar interessant, sich selbst zu finden? Ist es wirklich so interessant sich selbst zu finden, und ist es überhaupt möglich, wenn wir stets auch von unseren Beziehungen und den Menschen bestimmt werden, unter denen wir leben?

Ist es interessant, sein Selbst zu finden? Sollten wir nicht lieber einander finden? Tut er nicht dies, er, der in die Wüste geht, um das verlorene Schaf zu finden? Finden wir einander, weil er das wagt? Und dass Gottes Bewegung in die Welt die Bewegung ist, die wir wiederspiegeln sollen? Das Wagnis eingehen, das zu suchen was verloren ist? Kurz einander zu wagen?

Wir sollen einander finden. Das ist die eigentliche Aufgabe. Wir sollen versuchen, zu einander zu kommen. Wir sollen einander finden wie die verlorenen Schafe in die Wüste, denn das ist der Wille unseres himmlischen Vaters, dass nicht einer dieser Kleinen verloren gehen soll.

Wir leben aber in dem Glauben an die Vergebung und gehen hinaus in die Welt im Glauben an die Vergebung. Damit wird uns ein Grund gegeben, das zu wagen, was vielleicht nicht ganz leicht aussieht.

Hier soll heute gedankt werden für die Arbeit der Nothilfe in hundert Jahren. Dank für die Arbeit, die getan wurde und Dank für die den Glauben daran, dass Vergebung uns alle betrifft.

Der Mann in den Bergen mit all seinen Schafen ist ein Bild für unseren himmlischen Vater. Er wagte die Liebe in seinem Suchen nach dem einen verlorenen Schaf. Er wagte die Liebe am Kreuz. Und gewann in der Auferstehung. So ist er sowohl die Fülle unseres Lebens und ein Bild von uns. Wir sind erfüllt von seiner Vergebung, und wir sollen nach seinem Vorbild aufeinander zugehen im Glauben an die Vergebung, von der wir selbst an genommen sind.

Deshalb können wir dann auch zu Recht am Ende dieses Gottesdienstes heute singen:

„Geht nun frei,

wohin es sei,

an Gottes Gnad’ euch haltet!

Er gibt uns dann auch Glück und Mut,

dass wir hier dienen recht und gut,

so wie er selber waltet“.[1]

Geht nun frei. Da steht nicht wie. Aber geht frei im Glauben an die Vergebung und die Hoffnung, die dieser Glaube um uns schafft. Amen.


Bischof Thomas Reinholdt Rasmussen

Thulebakken 1

DK-9000 Aalborg

E-Mail: trr(at)km.dk


[1] Grundtvig, deutsche Übersetzung von Lied 752: „Morgenstund hat Gold im Mund“ nach dem Deutsch-Dänischen Kirchengesangbuch, Vers 4.

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