Mose steigt hinauf | Ex 19,1-6

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Mose steigt hinauf | Ex 19,1-6

10.Sonntag nach Trinitatis| 9.8.2021 | Predigt zu 2. Mose / Exodus 19,1-6| verfasst von Wolfgang Vögele |

Friedensgruß

Der Predigttext für den 10.Sonntag nach Trinitatis steht Ex 19,1-6:

„Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“

Liebe Schwestern und Brüder,

heute begeht die evangelische Kirche den so genannten Israel-Sonntag und erinnert an das Leid, das dem Volk Israel in seiner Geschichte geschehen ist. Darum will ich anfangen, eine Liste mit Namen zu verlesen:

Abraham Arthur Adler.

Albert Niedermann.

Fanny Speyer.

Hannelore Billigheimer.

Irma Billigheimer.

Kurt Billigheimer.

Dorothea Debora Krotowsky.

Gertrud Curjel.

Und Mose stieg hinauf zu Gott.

Alle diese Personen haben in Karlsruhe gelebt und mußten unter der Verfolgung durch die Nazis leiden. Die meisten von ihnen kamen im Internierungslager Gurs in den Pyrenäen ums Leben oder wurden im Zweiten Weltkrieg in einem Konzentrationslager in Polen ermordet. Die Liste der Ermordeten ließe sich um unzählige Namen verlängern mit Namen aus Berlin, Bad Saarow, Lindau, Neckarsulm, Rheda-Wiedenbrück und weiteren Städten und Dörfern aus ganz Europa. Alle diese Ermordeten, die mit Namen Bekannten und die Namenlosen, Männer, Frauen und Kinder stehen in der Menge von Menschen, die unten am Fuß des Berges auf die Rückkehr des Mose wartet. Ich stelle mir ein Bild vor, das die Predigtszene zum Inbegriff der Leidensgeschichte Israels macht.

Der ockerfarbene Hintergrund dieses Wimmelbildes wäre schnell skizziert: unten trocken und staubig die Sanddünen der Wüste, dahinter ein steiles Bergmassiv. In der Wüste unten wartet erschöpft das Volk Israel. Mose ist beim Aufstieg zu sehen. Die Menschen verfolgen die kleine Figur, die in der Ferne den Abhang hinaufsteigt. Die Menschenmenge unten am Fuß des Berges besteht aus den Sklaven, die aus Ägypten geflohen sind. Zu ihnen haben sich Nachfolger, Nachkommen, Menschen jüdischen Glaubens aller Zeiten und aller Orte gesellt, viele längst gestorben, viele auch brutal ermordet, unbekannte und sehr bekannte Personen, Künstler, Philosophen, Politiker, Männer und Frauen.

Und Mose stieg hinauf zu Gott.

Unten in der Wüste stehen die Könige Israels, der depressive Saul, der Harfenspieler und Ehebrecher David, der weise Tempelbauer Salomo. Dann die Propheten, der traurige Jeremia, der sanfte zweite Jesaja, der strenge Amos. Die Rückkehrer aus der babylonischen Gefangenschaft. Die Weisheitslehrer und -prediger, die oft keinen Namen unter ihre Texte schrieben. Der Historiker Flavius Josephus. Der Lehrer, Prediger und Wunderheiler Jesus von Nazareth. Daneben seine Jünger, seine Mutter Maria und sein Vater Josef. Dann Maria Magdalena, Maria und Martha. Daneben Pharisäer und Sadduzäer, Priester und Schriftgelehrte. Unten in der Wüste stehen aschkenasische Juden aus Osteuropa und die sephardische aus dem Süden. Mitglieder von orthodoxen, liberalen und konservativen jüdischen Gemeinden. Philosophen wie der Aufklärer Moses Mendelssohn und Hanna Ahrendt.

Und Mose stieg hinauf zu Gott.

Unten in der Wüste stehen die Opfer von Pogromen, die angeblichen Hostienschänder und vorgeblichen Kindermörder, die unschuldig Verdächtigten, die sogenannten jüdischen Weltverschwörer. Der zu Unrecht verfolgte und verurteilte französische Oberst Dreyfus. Unten am Berg stehen Rabbiner, Toralehrer, Chassiden und Synagogenvorsteher. Assimilierte Juden aus Berlin, Paris, Sevilla, Prag, Krakau, Odessa und Thessaloniki, zusammengewürfelt aus ganz Europa. Maler wie Marc Chagall, Komponisten wie die beiden Wiener Gustav Mahler und Arnold Schönberg. Der Dirigent Hermann Levi, der mit Richard Wagner befreundet war und die Uraufführung des Parsifal dirigierte. Anne Frank und Etty Hillesum, die beide ihr Leid in einem Tagebuch festhielten, bevor sie im Konzentrationslager ermordet wurden. Politiker wie David Ben Gurion, Golda Meir und der ermordete Friedensnobelpreisträger Jizchak Rabin. Unten in der Wüste stehen auch fiktive Personen wie der Milchmann Tevje aus dem Musical „Anatevka“ und der Toralehrer Mendel Singer aus Joseph Roths Roman „Hiob“. Unten in der Wüste stehen Überlebende und Opfer der Shoah, stehen nicht zuletzt Menschen, die Jahrzehnte später aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt sind, Menschen die friedlich dort leben, öffentlich die Kippa tragen wollen, ohne Opfer von Beschimpfungen und Schlimmerem zu werden.

Und Mose stieg hinauf zu Gott.

Diese unübersehbare Menge von lebenden und toten Menschen wartet darauf, welche Botschaft Mose vom Berg herunterbringen wird. Sie alle kommen aus einem Ägypten, nicht nur das Ägypten der Pharaonen, diese Menschen brauchten auch die Befreiung von allen antisemitischen Schrecken, Befreiung aus den Orten, wo neben der Sphinx unsägliche Judensau-Schmähreliefs und blinde Synagogenfiguren hängen, neben den Städten Ghettomauern aufragen und die Synagogen brennen. Die Stimmung unter den Wartenden in der Wüste ist zum Zerreißen gespannt. Denn sie alle werden beherrscht durch die kaum zu ertragende Spannung zwischen der gnädigen und barmherzigen Botschaft, die Mose auf dem Sinai empfangen soll, und dem, was die unten versammelten Menschen jüdischen Glaubens ertragen mußten. Bei manchen von ihnen ist die Spannung so stark geworden, daß sie sich nach Pogromen, Morden, Verletzungen und Beleidigungen weigerten, noch an diesen Gott der Bibel zu glauben und ihm zu vertrauen. Die Geschichte des Volkes Israel ist nicht darauf zu reduzieren, daß Israel zum Eigentum Gottes erklärt wird. Gerade dieser Barmherzigkeit steht unendliches Leid gegenüber, das jüdische Menschen durch die Jahrtausende ertragen mußten.

Also bleibt die Menge der Menschen bleibt erst einmal unten in der Wüste und wartet ab, was Mose nach seiner Rückkehr sagen wird. Das Bild von der riesigen Menschenmenge unterhalb des Berggipfels, auf dem Mose Gott begegnet, fügt sich zusammen mit anderen biblischen Bildern. Besonders Propheten und Psalmisten sprechen von der Völkerwallfahrt zum Zion am Ende der Zeiten, wenn nicht nur das Volk Israels, auch alle anderen Völker, die vereinten Nationen erkennen, wie Gott Frieden und Gnade für alle vorgesehen hat.

Und Mose stieg hinauf zu Gott.

Angesichts des Leids, was die jüdischen Menschen unterhalb des Berggipfels alle erlebt haben, stellt sich die Frage, welche Worte Gottes den unerschrockenen Mose auf dem Gipfel erwarten. Mose ist der Vermittler, der es wagt nachzufragen. Und Gott schweigt nicht. Er spricht. Und als erstes spricht er über die Befreiung aus der ägyptischen Diktatur des Pharao. Gott ist dort, wo solche Befreiung geschieht – auch wenn nicht alle der Wartenden unten in der Wüste solche Befreiung in ihrem Leben spüren konnten. Gott erklärt allen Männern und Frauen aus dem Volk Israel: Ihr seid mein Eigentum, gerade ihr, die ihr gelitten habt, die ihr hingerichtet, gefoltert, gemordet wurdet. Ihr, die ihr Wunden tragt und Erfahrungen des Leids gemacht habt. Ihr seid die Priester, nicht diejenigen, die ihre liturgischen Gewänder überziehen, fromme Gedanken hegen und Weihrauchfässer schwenken. Das leidende Volk Israel ist das Eigentum Gottes.

Mit diesem Volk der Leidenden und ungerecht Behandelten, der sinnlos Gequälten, mit diesem Volk schließt Gott einen Bund. Ein Bund ist ein Vertrag, der auf Gegenseitigkeit beruht. Hier wird der Bund zwischen ungleichen Partnern geschlossen, zwischen Gott und einer Gruppe von Menschen. Was auch immer geschehen ist nach der Befreiung aus Ägypten, Gott wird sich an diese Bundeszusage, an diesen Vertragsabschluß halten. Dieser Bund reicht über die Niederlage gegen die Babylonier und die Gefangenschaft dort hinaus. Das haben schon die Propheten theologisch verarbeitet. Dieser Bund reicht aber auch, trotz der unendlichen Leiderfahrungen des jüdischen Volkes, bis in die Gegenwart.

Und Mose stieg hinauf zu Gott.

An der Gottesrede auf dem Sinai fällt auf, daß Gott zum einen das Volk Israel zu seinem „Eigentum“ erklärt, zum anderen aber genauso behauptet, daß die gesamte Erde ihm, Gott, gehört. Die mit dem Begriff Eigentum einhergehende Privilegierung wird sofort wieder relativiert. Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen der besonderen Geschichte Israels und der Weltgeschichte.

Liebe Schwestern und Brüder, an diesem Punkt sehe ich die Verbindung, welche die Rede über Israel, die ich bisher vorgetragen habe, für uns, die wir christlichen und nicht jüdischen Glaubens sind, zur Predigt macht: Es ist zum eine Solidarität der Klage über all das, was dem jüdischen Volk dort geschehen ist, wo es ‚Ägypten‘ erlebt, Versklavung, Verfolgung, Diskriminierung, Antijudaismus. Es ist zum anderen eine Solidarität der Hoffnung auf den Gott, der nicht nur das Volk Israel aus Ägypten befreit hat, sondern auch den leidenden und am Kreuz hingerichteten Juden Jesus von Nazareth wieder von den Toten auferweckt hat. Die Spannung zwischen der Klage über das, was geschehen ist, dem Wunsch nach Gerechtigkeit, die angesichts von Tod und Leid eigentlich gar nicht wieder hergestellt werden kann, sie ist schier nicht auszuhalten. Trotzdem, die Hoffnung des Glaubens gilt dem Gott, der befreit und auferstehen läßt, der sich an seine Zusagen und Verheißungen hält. Wer trotzdem – und dieses ‚TROTZDEM‘ muß mit großen Buchstaben geschrieben werden – an Gottes Verheißungen glaubt, richtet seine Hoffnung auf den, der mit Israel einen Bund schließen will und dann alle anderen Völker daran teilhaben läßt.

Mose, der Vermittler zwischen Gott und dem Volk Israel, hat daran festgehalten. Das ist die einzige Möglichkeit, der einzige Trost angesichts von Leiden und Ungerechtigkeit.

Und Mose stieg hinauf zu Gott.

Amen.

 

Nachbemerkung: Die am Anfang genannten Namen von Opfern der Shoah stammen alle aus der Stadt, in der ich im Moment lebe, aus Karlsruhe. Sie lassen sich selbstverständlich ohne weiteres durch andere Namen aus anderen Städten ersetzen. Das gleiche gilt von den genannten Wissenschaftlern, Komponisten, Philosophen und anderen, über die sich auch in den einschlägigen Internet-Lexika recherchieren läßt.

PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com)

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