Galater 5,1-6 | Oktobersonne

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Galater 5,1-6 | Oktobersonne

Reformationstag | 31.10.2021 | Predigt zu Gal. 5,1-6 | verfasst von Sabine Handrick |

Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen.

Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.

Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas,

sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde!

Liberté, Liberté – rufen sie und tragen ihren Protest auf Strassen und Plätze, sogar in die Bahnhofshalle wie z.B. in Bern.

Landauf, landab sieht man sie an öffentlichen Orten ihre Meinung zu Markte tragen.

Immer wieder führen sie das Wort FREIHEIT im Mund. Sie nennen sich „Freunde der Verfassung“ oder „Querdenker“; sie fühlen sich als „Verteidigerinnen des Grundgesetzes“ oder lärmen als sogenannte „Freiheitstrychler“1.

Doch haben wirklich diejenigen Recht, die am lautesten schreien?

Sie klagen über Diskriminierungen, die Menschen betreffen würden, die sich nicht gegen Covid19 impfen lassen möchten … Sie sehen die Demokratie in Gefahr und fabulieren von Diktatur und Überwachungsstaat… Sie singen „Freiheit, Freiheit ist die Einzige, die fehlt“. …

Meine Lieben – ich muss das nicht weiter beschreiben – Ihr wisst alle, wovon ich rede. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht über solcherart Aktionen berichtet würde.

Nicht nur, dass jener Song von Marius Müller-Westernhagen missverstanden wird, das nur nebenbei. Die Demonstranten machen auch einen grundlegenden Fehler in Bezug auf die Freiheit. Wer meint, Freiheit bedeute, jedes Individuum könne jederzeit tun und lassen, was es möchte, liegt falsch.

Wir erleben gegenwärtig eine Pandemie, bei der Abertausende ihr Leben bzw. ihre Gesundheit verloren haben. Das wichtigste Freiheitsrecht eines jeden Menschen ist das Recht auf Leben!

Das gilt es zu schützen.

Die verschiedenen Corona- Massnahmen versuchten und versuchen es: Lockdown, Maskentragen, Abstandhalten, Hygiene-Routine, Homeoffice, Contact-Tracing, Tests, Impfungen, Zertifikate … Was haben wir in den letzten beiden Jahren als Gesellschaft nicht alles ertragen und mitgetragen!

Dass man mit der Zeit erschöpft und müde wird und all das nicht mehr mag, kann ich durchaus verstehen. Was ich aber nicht nachvollziehen kann, ist diese individualistische Trotz-Haltung. Man bewegt sich im engen Horizont der eigenen Filterblase und es geht nur nach dem, was „mir“ passt und gegen alles, was „mir“ nicht gefällt, protestiert.

Ich denke, mit einem weiteren Blickwinkel könnten wir alle dafür sorgen, dass aus dem vielstimmigen ICH-ICH-ICH wieder ein WIR wird.

Und für den Fall, dass man nach vernünftigen Überlegungen und sorgfältiger Unterscheidung der Geister (1.Kor.12,10) zu dem Schluss kommt, aufgrund des Gewissens oder eigner Glaubensüberzeugungen, um der Gerechtigkeit willen, für den Frieden und die Bewahrung der Schöpfung protestieren zu müssen, dann sollte man das auch tun.

Denn das Recht zu demonstrieren und die eigene Meinung öffentlich zu vertreten, ist ein Grundrecht in einer freien Demokratie. Und ich bin sehr froh, in einem Land zu leben, wo dies möglich ist.

Ich erinnere mich noch gut an eine andere Zeit: Es war im Januar 1988, als es einige Mutige2 mit folgendem Zitat von Rosa Luxemburg in Berlin auf die Strasse gingen: „Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden.“ Die damaligen Machthaber fühlten sich provoziert. In einer „Diktatur des Proletariats“ gab es keine Freiheit für niemanden und erst recht nicht für Andersdenke. Einige der Bürgerrechtler bezahlten dafür mit Gefängnis bzw. Ausschaffung aus dem eigenen Land („Ausbürgerung“).

Diejenigen, die sich heute in einer Diktatur wähnen und „staatlichem Zwang“ beklagen, sollten wirklich realisieren, dass die Demokratie im Namen der Freiheit sogar den Demokratie-Gegnern Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht ermöglicht!

Liebe Gemeinde, der Apostel Paulus war ein Mensch, der kein Blatt vor den Mund nahm und keiner Diskussion aus dem Weg ging. Im Galaterbrief beschäftigte er sich mit einer Frage, die die frühen Christinnen und Christen in der Mitte des 1. Jahrhunderts umtrieb. Es ging auch um eine Entscheidung mit körperlichen Konsequenzen.

So wie wir uns heute fragen: Impfen lassen Ja oder Nein? grübelten die Galater über: Beschneiden lassen Ja oder Nein?

Diese Frage spielt im Christentum mittlerweile keine Rolle mehr. Aber wie Paulus zu dieser Frage im Blick auf die Freiheit argumentiert, ist interessant und seine Worte waren folgenreich. Davon will ich heute auch erzählen.

Die Galater waren eine christliche Gemeinde in Kleinasien, das in etwa der heutigen Türkei entspricht. Sie lebten in der Region um Ankara.

Eigentlich lief es dort ganz gut: Die Gemeinde wuchs und die Gemeindeglieder erkundeten neue Formen des Miteinanders.

Man stelle sich vor: So etwas hatte es noch nie gegeben. Sie teilten, was sie besassen und halfen einander, wenn jemand in Not war. Sie brachen das Brot und tranken aus einem Kelch. Sie versuchten ganz im Sinn und Geiste Jesu zu leben. Sie spürten, wenn sie beisammen waren: Christus ist gegenwärtig, mitten unter ihnen. So blieb die Botschaft Jesu lebendig, die er versprochen hatte: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

In ihrer Gemeinde sollte es keine Rolle mehr spielen, ob einer Herr war oder Knecht. Der soziale Status verlor an Bedeutung. Kinder, Frauen und Sklaven, Einheimische und Weitgereiste kamen regelmässig zusammen und bildeten eine Gemeinschaft. Welcher Muttersprache sie auch waren, egal woher jemand kam, welchen religiösen Hintergrund sie mitbrachten, ob sie griechisch sprechende römische Bürger waren oder Jüdinnen und Juden, Frauen oder Männer – sie fühlten sich alle eins in Christus.

Eine Sache aber machte ihnen zu schaffen. ‚Wäre es nicht doch besser, wenn sich die nichtjüdischen Männer beschneiden liessen?‘, fragten sie sich. Die Beschneidung als Zeichen des Bundes, den Gott mit seinem Volk geschlossen hatte, würde die Nicht-Juden den jüdischen Geschwistern gleichstellen.

Und es hätte noch einen weiteren Vorteil, überlegten sie. So könnten sie dem öffentlichen Druck ausweichen, der im römischen Reich herrschte, wenn sie „offiziell“ zum Judentum konvertieren würden. Denn jedermann hatte die Pflicht, den römischen Gottheiten zu opfern und dem Kaiser zu huldigen. Nur die jüdischen Männer und Frauen waren von dieser Pflicht ausgenommen. Also, was tun?

Die Antwort von Paulus fiel eindeutig aus:  Nein, tut das nicht. Ihr seid frei durch Christus. Wer sich beschneiden lässt, beugt sich indirekt dem römischen Machtanspruch.

Ebenso braucht ihr euch auch nicht, dem Gesetz (Tora) zu unterwerfen, selbst wenn dieses Argument von judenchristlicher Seite immer wieder kommt.  „Du musst dich zuerst beschneiden lassen, damit du zu Jesus Christus gehörst.“

„Nein. Das musst du nicht!“, sagte Paulus. Lasst einander gelten. Wer als Jude bereits beschnitten war – gut, nicht mehr zu ändern. Und wer unbeschnitten war, sollte das bleiben, auch gut. (1. Kor 7,18)

In Jesus Christus ist weder das eine noch das andere entscheidend. Es kommt allein auf den Glauben an.

Paulus illustrierte dies mit einem Bild, das leicht zu verstehen war: Schaut, das Gesetz (die Tora) ist wie ein Joch, das man einem Ochsen auflegt, wenn er angespannt wird und pflügen soll. Lasst Euch kein Joch mehr aufzwingen!

Nebenbei bemerkt: Es ist schon irgendwie komisch, dass die Freiheitstrychler sich ausgerechnet im Namen der Freiheit ein Joch auf die Schultern legen und die schweren Viehglocken schleppen. Ich wüsste zu gern, was Paulus zu dieser Protestform sagen würde.

Doch zurück zu den Argumenten von Paulus:

Durch Jesus Christus sind wir Christinnen & Christen frei vom Druck des Gesetzes. Wir müssen uns nicht mehr abmühen beim Versuch, uns die Liebe Gottes zu erarbeiten. In Jesus Christus kam Gottes Liebe zu uns.

Er nahm uns die Last von den Schultern, auf dass der Weg zu Gott frei sei. Wir dürfen aufatmen und erleichtert diesen Weg in Freiheit gehen.

Liebe Gemeinde! In der ganzen Bibel begegnet uns ein Gott, der uns Freiheit verheisst. Es begann mit einem Volk, das zum Volk Gottes wurde – Israel. Das war die grundlegende Erfahrung der Israeliten: „Ich bin dein Gott, der dich aus der Sklaverei in Ägypten herausgeführt hat.“ Natürlich hat der Jude Paulus diese Befreiungserfahrung vor Augen, wenn er von der Freiheit spricht, die Christus nun für alle eröffnet hat.

Es gibt eine schöne Stelle beim Propheten Jesaja (Jes.44,21f.), wo Gott zu den Menschen spricht, die zu ihm gehören: „Denk daran, Jakob, denk daran Israel, dass du mein Knecht bist. Ich habe dich geschaffen, du bist mein Knecht und gehörst zu mir. Darum werde ich dich niemals vergessen. Deine Verbrechen habe ich weggewischt wie Wolken, die im Wind verwehen. Deine Verfehlungen sind verschwunden wie Nebel vor der Sonne. Wende dich mir zu, denn ich habe dich befreit!“ (Basis-Bibel) – Was für ein schönes Bild!

Jetzt im Herbst kann man es gelegentlich erleben. Es ziehen dicke Nebelwolken auf und behindern die Sicht. Manchmal erkennt man buchstäblich die Hand vor Augen nicht mehr.  Doch dann … bringen Sonnenstrahlen in kurzer Zeit den Nebel zum Verschwinden. Hell und klar strahlt der Tag. Vom Nebel – nichts mehr zu sehen.

So ähnlich bringt Gott alles zum Verschwinden, was uns von ihm trennt. Unsere Unklarheiten, den Nebel unserer sorgenvollen Gedanken, die Schuld, die uns bedrückt und die Belastungen … verflogen … einfach weg, durch die wärmende Liebe Gottes in Luft aufgelöst.

Meine Lieben, ich weiss nicht, ob Martin Luther in seiner kalten Stube auf der Wartburg solche Lichtblicke erlebt hat. Aber ich weiss, dass sich der Nebel seiner Glaubenszweifel lichtete.

Als er die Bibel, auch die Briefe von Paulus an die Galater, die Korinther, die Römer studierte, brach sich die reformatorische Erkenntnis in ihm Bahn: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! – Das sagt doch schon Paulus.

So legte Luther alles ab, was ihn belastete. Erleichtert, nicht mehr dieses Joch auf den Schultern tragen zu müssen, erkannte er: Seine verzweifelte Suche nach dem gnädigen Gott war vorbei. Er hatte sich von Gott finden lassen.

Luther gewann eine entschiedene, aufrechte Haltung, die ihn voller Freiheit durch die Konflikte gehen liess, die in seiner Kirche nun aufbrachen. Wie ein Donnerhall klangen seine klaren, kritischen Worte. Sie wurden in ganz Europa gehört, seine berühmten 95 Thesen gegen den Ablasshandel verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Die Reformation begann.

Und dann im Herbst vor 501 Jahren erschien Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520). Darin beschreibt er diese Grundfrage des Glaubens in für alle verständlicher Weise – klar, deutsch und deutlich!

Die zentrale Doppel-Aussage lautete: „Ein Christ ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem verpflichtet. Ein Christ ist ein dienstbarer Knecht in allen Dingen und jedermann verpflichtet.“ Das hatte Luther ganz sicher bei Paulus gelernt. Eins ist nicht ohne das andere zu haben: Freiheit bedeutet Verantwortung und umgekehrt.

Liebe Schwestern und Brüder, zur Freiheit hat uns Christus befreit! Wir sind zur Freiheit berufen!

Und es ist unsere gemeinsame Aufgabe. Wir sind unseren Mitmenschen verpflichtet.

Wir sollten beziehungslosem Egoismus widersprechen, wann immer er uns begegnet. Das Gebot, an dem wir uns messen lassen müssen, bleibt das gleiche wie eh und je:

„Liebe Gott und deinen Nächsten wie Dich selbst.“

Entscheidend ist unser „Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“ Amen

Pfarrerin Sabine Handrick

Jahrgang 1965, seit 2010 Pfarrerin der Reformierten Kirchgemeinde Düdingen, Kanton Fribourg

Hintergründe:

1 Eine schweizerische Tradition ist das Trycheln, das aktuell von den sogenannten „Freiheitstrychlern“ auf Demonstrationen praktiziert wird. https://de.wikipedia.org/wiki/Trycheln

2 https://www.jugendopposition.de/themen/145392/luxemburg-liebknecht-demonstration

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