Predigt zu Luthers 1. Invokavit-Predigt

Home / Aktuelle (de) / Predigt zu Luthers 1. Invokavit-Predigt
Predigt zu Luthers 1. Invokavit-Predigt

Vorbemerkungen:
1. Ich habe um der Verständlichkeit willen, die bei einer Predigt immer
zu beherzigen ist, den Text der von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling besorgten
Ausgabe „Martin Luther, Ausgewählte Schriften“, Bd.I, S.271ff.,
Insel-Verlag, Frankfurt 1983, zugrunde gelegt.
2. Leitmotiv soll laut Vorgabe das Thema „Freiheit“ sein. Neben den
Invokavit-Predigten habe ich deshalb auch Luthers Schrift aus dem Jahr 1520 „Von
der Freiheit eines Christenmenschen“ herangezogen, in welcher das Thema
durch reflektiert wird und präzise formuliert ist.
3. Da jede Predigt gegenwartsbezogen sein soll, ziehe ich die von Luther gelegte
Spur bis in unsere Tage aus. Um einen Eindruck von den historischen Ereignissen
am Beginn des Jahres 1522 in Wittenberg zu vermitteln, schildere ich am Anfang
in wenigen Strichen die damalige Situation.

Liebe Gemeinde,
am Beginn des Jahres 1522 brachen dramatische Ereignisse auf die Kirche der
Reformation herein. Martin Luther war nach wie vor auf der Wartburg, versteckt
als Junker Jörg. Viele meinten, er sei längst tot. In Wittenberg hatten andere
die Reformation in die Hand genommen, „Schwarmgeister“, wie Luther
sie nannte, vorneweg Karlstadt, im Gefolge Zwilling und weitere auf Erneuerung
bedachte Akteure. Die römische Messe wurde abgeschafft, nun das mochte hingehen.
Das Abendmahl wurde in beiderlei Gestalt gereicht, in Brot und Wein, auch das
war konsequent. Doch die Gläubigen wurden gezwungen, die Hostie in die Hand
zu nehmen, was bis dahin als Todsünde galt und was viele deshalb nur mit
Zittern und Zagen taten. Heiligenbilder wurden gestürmt und zerstört.
Das war Vandalismus. Luther hielt es nicht länger auf seiner Burg. Sein „Ausbrechen
aus dem Gefängnis auf der Wartburg..ist..die mutigste Tat seiner Laufbahn,
tollkühn, nahezu wahnwitzig“, so sein Biograph Richard Friedenthal.
Er „wünschte keine Gewaltanwendung. Die Gewalt seiner Worte genügte.
Eine Woche lang sprach er von der Kanzel, und die Stadt wurde ruhig.“ Wann
haben Predigten je eine solche Wirkung gehabt?

1.
Die erste Predigt, am Sonntag Invokavit, dem 9. März 1522 gehalten, beginnt
mit dem Satz: „Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird
für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich
mit dem Tod kämpfen.“ Dies ist kein theoretischer Satz, einfach dahin
gesagt. Luther weiß sehr wohl, daß er vogelfrei ist, jedermann
kann ihn erschlagen, ohne dafür bestraft zu werden. Er hält sich
für extrem gefährdet, und er schlägt dies gleichzeitig in den
Wind. Er habe sich dem Kurfürsten zuliebe ein Jahr lang auf der Wartburg
verstecken lassen. Jetzt sei es genug, er brauche keinen Schutz mehr. „Ich
komme gen Wittenberg in gar viel einem höheren Schutz denn des Kurfürsten.“ Er
meint sogar, er wolle Friedrich „mehr schützen, denn Ihr mich schützen
könnt“. Er fühlt sich unter der Obhut Gottes sicher und zugleich
frei. Er versteht sich als jemanden, den Gott nun wieder als sein Werkzeug
gebrauchen will.

Was in Wittenberg geschehen ist, stellt eine Schmach für das Evangelium
dar: „Denn es ist so gehandelt, daß wir’s weder vor Gott noch
vor der Welt verantworten können“, so der von der Kanzel donnerde
Luther. Es darf keinen Rückfall in frühere religiöse Zwänge
geben. Die Freiheit des Glaubens und des Gewissens ist vor allem anderen
hoch zu halten. Den Tod fürchtet er nicht, wohl aber die Frage,
ob er vor Gott bestehen kann. Dies zumal mit der von ihm ingang gesetzten
Reformation der Kirche, die nun andere in Zwang und Gewalt verkehrt haben.
Jeder muß „die Hauptstücke, die einen Christen angehen, genau
wissen und gerüstet sein.“ Daß wir nämlich „Kinder
des Zorns“ sind und daß wir, weil Gott seinen Sohn gesandt hat, „von
Sünde frei“ sind und „Kinder Gottes“: „In diesen zwei
Stücken spüre ich noch keinen Fehler oder Mangel, sondern sie sind
euch auf reinste gepredigt..Ja, ich sehe gut und darf es sagen, daß ihr
gelehrter seid, als ich es bin“. Ob der Doktor Martinus hier nicht übertreibt?
Er zieht alle Register, ja er möchte die lieben Wittenberger wieder auf
seine Seite bringen. Zugleich spürt man seine Freude und seinen Stolz,
daß das „liebe Evangelium“ so schnell durch die deutschen Lande
gelaufen ist, daß es viele Menschen gepackt und in seiner Stadt erst
recht Fuß gefaßt hat, wenn auch kurzzeitig ins Gegenteil verkehrt

2.
Mit der ersten Predigt spricht er sofort das Thema „Freiheit“ an.
Er nimmt auf, was er bereits zwei Jahre zuvor in einer eigenen Schrift mit
dem Titel „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ entfaltet hat.
In ihr setzt er eine These gleich vorneweg, um Klarheit zu schaffen und seine
Botschaft zuzuspitzen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge
und niemand untertan.“ Es folgt alsbald die zweite These, wie Kundige
wissen, doch sie sei einen Augenblick zurückgestellt. Der Christ – ein
freier Mensch. In Sachen des Glaubens und des Gewissens niemandem untertan,
nicht Kurfürst, nicht Kaiser, nicht Papst, nicht Kirche, nicht irgendeiner
anderen Autorität – wie er es selbst auf dem Reichstag zu Worms 1521 demonstriert
hat. Das klingt wie Freiherr und Freifrau, es klingt nach Adel, und in der
Tat ist jeder Christenmensch geadelt. Obwohl er aus krummem Holz geschnitzt
ist, geht er den Gang des Aufrechten, aufgerichtet von Gott. Der Ruf der Freiheit
ist fortan mit der Reformation verbunden.

Wie steht es heute damit? Der hohe Ton der Freiheit ist ungebrochen.
In Umfragen kann man sich bestätigen lassen: Auf Platz eins aller
Wertschätzungen rangiert der Wunsch nach persönlicher Freiheit.
Wir brauchen nicht einmal eine Befragung, wir wissen es von uns selbst:
Keiner und keine läßt sich heute mehr etwas vormachen oder
vorschreiben. Was ich denke oder glaube, bestimme ich. Hier steht eine
andere große Gestalt, deren 200jährigen Todestag wir in diesem
Jahr begehen, Pate: Immanuel Kant. Von ihm stammt die Definition: „Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Und
er fügt gleich hinzu: „Habe Mut, dich deines Verstandes zu
bedienen!“ Mündigkeit ist mithin das Erbe der Reformation und
der Aufklärung. Jeder und jede hat die Möglichkeit in Freiheit
zu glauben und als mündiger Mensch zu denken. Sogar Kinder sind
längst auf dem Weg der Autonomie. Die heutigen Menschen sind dabei
sie selbst zu werden, mit sich identisch. Doch ob sie dabei immer ihren
Verstand gebrauchen, ist zweifelhaft. Und ob sie dabei tatsächlich
frei werden, ist fraglich.

Früh morgens jedenfalls will es noch nicht recht gelingen. „Ich muß erst
zu mir selbst kommen“, sagt schläfrig der heranwachsende Sohn. Er
braucht dafür den Morgen und auch noch den Abend, mitunter die ganze Woche,
das Jahr, bei Lichte besehen das ganze Leben. Kommen wir irgendwann bei uns
selbst an? Das ist die entscheidende Frage. Wann bin ich bei mir selbst? Wann
bin ich bei Verstand? Oder bin ich nie bei Trost? Diesen Widerspruch kriegt
man so leicht nicht weg. Wenn sich alle um sich selbst drehen, wer sorgt dann
für die anderen?

„Ich und mein Magnum“ hieß eine langjährige Eiscreme-Werbung.
Da schiebt sich jemand ein süsses Stück Eiscreme in den rot
gefärbten Mund, tut sich offensichtlich Gutes, und die anderen,
die es sehen, möchten es ihm nachtun. Die Reklame war sehr erfolgreich.
Am besten Magnum, was ins Deutsche übersetzt bedeutet: „Das
Grosse“. Ja, ich bin mir selbst der Größte. Die Eisverkäufer
wissen es und füttern dass Ich.

Nur wie will ich es schaffen, mir selbst unendlich wichtig zu sein und
doch kein Egoist zu werden? Die Antwort ist klar – es geht nicht. Hier
liegt die ständige Selbsttäuschung des Ich bei der Selbstverwirklichung.
Ich tue mir nicht nur Gutes, ich werde auch von mir selbst geknechtet
und nicht zu knapp. Ich habe meine Launen und Macken. Mitunter merke
ich es sogar und ärgere mich darüber. Warum bist du wieder
in die Falle getappt? Dies bedeutet, mit Paulus gesprochen und danach
mit Luther: Ich muß zuallererst nicht zu mir, sondern von mir befreit
werden. Von meiner Selbstbezogenheit. Von meiner Sorge um mich. „Zur
Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt Paulus im Galaterbrief
5,1. Und einige Kapitel vorher schärft er ein: „Ich lebe, doch
nun nicht ich, sondern Christus in mir“ (2,20). Es ist gut, daß er
in mir Gestalt gewinnt, daß er mich durchflutet und erleuchtet.
Dann geht mir ein Licht auf.

Wir alle sind bedürftig, der Nahrung, der frischen Luft, der Freundschaft,
der Liebe. Viele empfinden es freilich als Mangel auf andere angewiesen
zu sein. Sie möchten sich alles erarbeiten oder besser noch kaufen
können. Das ist einfacher, macht aber auch einsamer. Vor allem aber:
Das Wichtigste im Leben kann man nicht erwerben. Gott kann man erst recht
nicht kaufen, nicht mit gutem Geld und auch nicht mit guten Taten.

Anders herum gesagt und mit Kierkegaard gesprochen: „Gottes bedürfen
ist des Menschen höchste Vollkommenheit.“ Hier wird eine Wahrheit
auf den Punkt gebracht: Ich werde erst ein kompletter Mensch, wenn Gott
Teil meiner selbst wird, das bessere Teil. Wenn ich meine Macken, meine
Unausstehlichkeiten, meine Unvollkommenheit – oder auf den Punkt gebracht
– meine Sünde sehe und merke: „Nobody is perfect“, und
ich erst recht nicht, ich kann ein Satansbraten sein, sodaß ich
nicht mehr weiß, welcher Teufel in mich gefahren ist.

Wenn ich dies alles zur Kenntnis nehme, dann bin ich bei mir selbst.
Dies alles ist nicht nur ein Schönheitsfehler, gewissermaßen
ein Kratzer im Lack. Es sitzt tiefer, eben da, wo ich selbst bin oder
sein möchte oder mich suche. Oft genug bin ich gar nicht bei mir
selbst, sondern im Gegenteil außer mir, vor Ärger, vor Wut.
Ich könnte mich in den Hintern beißen, aber auch das geht
nicht. Wann endlich bin ich bei mir angekommen?
Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit. Erst mit
Gott wird ein Schuh daraus, aus dem ausgelatschten Menschen. Dies ist – salopp
gesagt – die reformatorische Erkenntnis. Wer Freiheit erreichen will, muß sehr
tief in sich ansetzen. Er oder sie muß frei werden von der ewigen Sorge
um sich selbst, von der Pirouette um die eigene Person. Hierbei helfen auch
die Guttaten nicht, mit Luther gesprochen: „Mein guten Werk die galten
nicht, es war mit ihnen verdorben…“. Sie mögen gut gemeint sein,
aber das ist bekanntlich das Gegenteil von gut. Befreiung geschieht dadurch,
daß Gott für uns eintritt, daß er sagt: „Ich bin dir
gut“, daß er uns gerecht spricht.

„Zur Freiheit hat euch Christus befreit! Darum steht nun fest und
laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ –
so noch einmal der Anfang des 5. Kapitels aus dem Galaterbrief. Schluß mit
dem knechtischen Geist, her mit dem Geist der Befreiung. ‚Ein Christenmensch
ist ein freier Herr, eine freie Frau aller Dinge und niemandem untertan.‘
Dies ist der erste, der grundlegende, der von Sorge um sich selbst befreiende
Satz.

3.
Es folgt notwendig der zweite, ebenfalls in der Freiheitsschrift stehend: „Ein
Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Das
klingt wie das genaue Gegenteil und ist doch die logische Folge. Aus der Befreiuung
des einzelnen folgt die Zuwendung zum andern. Doch zwei Jahre später bei
den Vorgängen in Wittenberg scheint diese Einsicht nicht angekommen zu
sein. Luther findet in der 1. Invokavit-Predigt deutliche Worte. Wir „müssen
auch die Liebe haben. Hierin, liebe Freunde, hat’s da nicht gefehlt? Ich spüre
in keinem die Liebe und merke sehr gut, daß ihr Gott nicht dankbar gewesen
seid für seinen reichen Schatz…Gott will nicht Zuhörer oder Nachredner
haben, sondern Nachfolger und Ausübende, und das im Glauben durch die
Liebe.“ – „Und macht mir nicht ein ‚muß sein‘ aus dem ‚frei
sein‘, wie ihr getan habt, auf daß ihr nicht für diejenigen, so
ihr durch eure lieblose Freiheit verleitet habt, Rechenschaft mußt geben.“

Solches Handeln bringt Menschen in Gewissensnöte. Vor dem Reichtstag
in Worms hat Luther in seiner Rede vorgetragen: „Die Gesetze des
Papstes und die Menschenlehren haben die Gewissen der Gläubigen
elend in Fesseln geschlagen, mißhandelt und zu Tode gefoltert.“ Die
Gewissensfreiheit – sie ist für Luther das allerhöchste menschliche
Gut. Sie darf man nicht belasten, nicht beschränken, nicht verspielen.

Inzwischen gilt es in deutschen Landen als gut protestantisch, frei zu sein
von Gott, vom Nächsten und von der Kirche. „Man kann gut Christ sein,
auch ohne in die Kirche zu gehen“, lautet ein viel gesprochener Satz,
gewissermaßen als Bekennntis des modernen Menschen, der sich von allem
befreit hat. Es gilt nach wie vor: Keiner soll als Christ, d. h. als von Christus
Befreiter geknechtet werden – da sei Gott vor. Der feine Unterschied ist nur:
Ein Christenmensch macht sich freiwillig zum Diener Gottes und zum hilfreichen
Geist des Nächsten. Paulus spricht von dem Glauben, der in der Liebe tätig
ist. Wer von seiner Befreiung durchdrungen ist, möchte auch, daß andere
daran teilhaben.

Am Ende seiner Freiheitsschrift hat Luther diesen Zusammenhang so ausgedrückt:
Aus dem allen ergibt sich, „daß ein Christenmensch nicht in
sich selbst lebt, sondern in Christus und in dem Nächsten; in Christus
durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben
fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter
sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und in göttlicher
Liebe.“

Da ist viel Bewegung in der gewonnenen Freiheit. Jemand, der nicht aus
seiner Haut kann, fährt aus derselben, zu Gott und zum Nächsten.
Man muß schon aus der Haut fahren, um sein altes Ich zu überwinden
und das neue Ich zu erreichen.
Das ist, sagt der Reformator, „die rechte, geistliche, christliche Freiheit,
die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, die alle
andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde.“
Die alle andere Freiheit übertrifft. Ein Juwel, das in unsere Herzen,
Mund und Hände gelegt ist, und sie zugleich himmelhoch überragt.

Amen

Landessuperintendent i. R. Dr. Hinrich Buß
Ludwig-Beck-Str.
4
37075 Göttingen
Tel. 0551-5316683

de_DEDeutsch