Psalm 90 und Matthäus 6, 5-13

Home / Bibel / Neues Testament / 01) Matthäus / Matthew / Psalm 90 und Matthäus 6, 5-13
Psalm 90 und Matthäus 6, 5-13

Ein Tag und tausend Jahre

Wieder ist ein Jahreswechsel vollzogen. Das gibt Anlaß, zurückzudenken,
und nach vorn zu denken. Vor uns haben wir noch einen Tag, jedenfalls
einen halben Tag, ja ein Jahr, vielleicht viele Jahre, und unsere Nachkommen
haben vielleicht hunderte, vielleicht tausende von Jahren.

Ein Tag, wo wir hier sind mit all dem, was das an Möglichkeiten
enthält, Erfahrungen, Aufgaben und Ansprüchen – und dann tausend
Jahre. Das Merkwürdige ist ja, daß die vielen Jahre verblassen
in einer großen, luftigen, unüberschaubaren Perspektive, während
der heutige Tag uns anspricht, etwas von uns will, uns bevorsteht – bezaubernd
und groß. Ja als der Psalmist vor vielen Jahren aufzählen
wollte, was unsere Zeiten waren im Vergleich zur Ewigkeit Gottes, dann
mußte er sagen, daß ein ganzes Menschenleben nur ganz
wenig bedeutet: Es ist „wie ein Gras, das am Morgen noch sproßt,
das am Morgen blüht und sproßt, und des Abends welkt und verdorrt“.
Ja tausend Jahre sind vor Gott „wie der Tag, der gestern vergangen
ist, und wie eine Nachtwache“, unser Leben „fähret schnell
dahin, als flögen wir davon“, und „was daran köstlich
scheint, ist nur vergebliche Mühe“.

Also: Die große Perspektive schrumpft ein, wird zu nichts, die
einzelnen Tage aber öffnen sich und werden wichtiger als alles andere. „Herr,
lehre uns, unsere Tage zu zählen, auf daß wir klug werden“,
heißt es deshalb (nach der dänischen Übersetzung).
Der Psalmist weiß, daß es die einzelnen Tage sind, die einem
Leben seinen unverlierbaren Wert geben. Er weiß, wie wichtig es
ist, daß wir sie uns merken, sie annehmen, damit sie nicht nur
an uns vorbeigleiten, als seien sie nichts.

Herr, lehre uns, unsere Tage zu zählen! Das ist natürlich
keine Aufforderung, rein numerisch die Tage zu zählen. Das ist eine
Bitte, daß wir unsere Augen öffnen mögen und jeden einzelnen
Tag in uns aufnehmen sollen. Da ist Klugheit zu holen; dort geschieht
etwas Wunderbares; dort begegnet uns die Güte Gottes jeden Morgen,
wenn wir einen Tag beginnen.

Es ist also einerseits so, daß die Tage, die Jahre, die Jahrtausende
verschwinden und zu nichts werden, wie Tropfen im Meer der Ewigkeit.
Andererseits hat jeder Tag seinen unverlierbaren Wert, einen grenzenlosen
Reichtum, eine bodenlose Freude. Und wenn wir das Neue Testament aufschlagen,
nämlich den 2. Petrusbrief (3,8), dann wird diese Doppelheit in
einer fast paradoxen Formulierung ausgesprochen: “ Ein Tag
vor dem Herren ist wie tausend Jahre“ und (ganz wie im Alten Testament) „tausend
Jahre wie ein Tag“.

Ein Tag ist wie tausend Jahre – das ist ein phantastischer Gedanke.
In den Augen Gottes ist ein einziger Tag, so kurz er auch sein mag, so
voll von Möglichkeiten, von Nähe und Leben, ewigem Leben, daß er
wie tausend Jahre ist. Ja, jeder Tag enthält alles in sich, was
erforderlich ist, um das Leben zu kennen und den Reichtum Gottes in ihm.

Das weiß man zuweilen, aber vielleicht am meisten, wenn man daran
denkt, daß es eine Grenze gibt, daß es einmal vorbei ist.
Das wissen wir vielleicht am besten, wenn wir überrascht und bewegt
werden und der Tag ganz anders wird als wir uns das vorgestellt und gedacht
hatten.

Die Ewigkeit und ein Tag

Eine der schönsten Erlebnisse des vergangenen Jahres war für
mich der Film des griechischen Regisseurs Theo Angelopoulos: „Die
Ewigkeit und ein Tag“. Das ist ein Film mit träumenden, magisch
strömenden Bildern, die sich wie Wellen bewegen aus einem ewig wogenden
Meer zu dem, was im Leben der Menschen geschieht. Der Film handelt von
einem Schriftsteller, der am nächsten Tag in ein Krankenhaus muß und
nicht damit rechnet, daß er da wieder lebendig herauskommt.

Der letzte Tag ist somit ein Tag des Abschieds, an dem er zurückdenkt
an das Leben, in dem er nie richtig gegenwärtig war. Wo die Blicke
der anderen ihm entgegenleuchteten, wie sich seine Frau ihm in großer
Liebe nähern wollte, da wich er zurück, entzog sich und gab
sich nie ganz selbst. Am letzten Tag will er nur ganz still sein Leben
abwickeln. Und dann führt ihn dieser Tag zufällig auf eine
Reise und hinein in das Leben eines Menschen, der vorher nicht dagewesen
war.

Er trifft auf einen elternlosen albanischen Jungen, einen Flüchtling,
und er kann ihn nicht wieder verlassen. Als der Junge Hilfe
braucht gegen die griechische Polizei und die albanische Mafia, die ihn
verkaufen will, sieht es der alternde Schriftsteller als seine Aufgabe,
den Jungen nach Hause zu seiner Familie in Albanien zu bringen.

An diesem letzten Tag flieht er nicht – sondern eine zufällige
Begegnung soll nun sein Leben besiegeln. So viele Möglichkeiten
hat er nie ergriffen und benutzt, wenn er zurückschaut, aber
an diesem Tag ergibt er sich. In der Begegnung mit dem Jungen findet
er endlich das entschwundene Leben, das Leben der Ewigkeit.

„Die Ewigkeit und ein Tag“, heißt der Film. Einer der
griechischen Kirchenväter hat gesagt, daß die „Zeit wie
eine Leiter ist, die die Ewigkeit aufstellt. Eine Leiter, die der ewige
Gott mir dort zur Verfügung stellt, wo ich bin, auf meinem Niveau.
Aber es ist nicht so, daß ich sagen kann, ich bin nun so und so
weit auf der Leiter gekommen. Denn jeden Tag stehe ich am Fuße
der Leiter“.

Das bedeutet: Jeden Tag befinde ich mich am Beginn der Ewigkeit, jeden
Tag will Gott etwas von mir, und ich stehe an der Schwelle zu seinem
Reich.

Oft aber, das wissen wir nur allzu gut, sind wir blind und sehen gar
nichts. Oft sind wir so mit vielen Vorhaben und Aufgaben beschäftigt,
daß wir eigentlich gar nicht richtig verstehen, daß mir dieser
Tag begegnet, wunderbar, mit etwas, was ich mir nicht gedacht hatte.
Und offen lassen wir uns drauf nicht wirklich ein, wenn es wirklich gilt,
treten wir einen Schritt zurück, vielleicht weil wir uns nicht bewegen
lassen wollen und nicht hingeführt werden wollen, wo wir noch nie
waren. Und eines Tages sehen wir vielleicht, daß uns das Entscheidende
entgangen ist. Wir haben uns herausgehalten, uns nicht hingegeben, wir
haben das bewegende Leben der Ewigkeit nicht ergriffen.

Und deshalb müssen wir beten: Herr lehre uns, unsere Tage zu zählen,
ja laß jeden Tag und ergreifen. Ob der Tag finster ist oder hell,
ob er schwer ist und ernst oder ob er uns mit all seiner Wonne emporhebt.

Vaterunser

Aber wenn das möglich sein soll, erfordert das eine ganz bestimmte
Einstellung in uns. Das erfordert Offenheit, Demut und Mut, so daß unsere
alten Gewohnheiten und alle unsere Pläne und Vorhaben nicht
dem im Wege stehen, was uns von einem auf den anderen Tag begegnet

Und diese Einstellung, dieser Zugang zu den einzelnen Tagen, zu einem
neuen Jahr, das finden wir auch am schönsten und klarsten ausgedrückt
in dem Gebet, das Jesus uns gelehrt hat, das unverwüstlich ist und
sich im täglichen Gebrauch und bei besonderen Situationen über
fast zweitausend Jahre bewährt hat.

Es geht nicht um viele Worte, sagt Jesus. Es geht um die Einstellung,
die im Inneren des Herzens zu finden ist. Euer Vater im Himmel weiß,
was ihr braucht, noch ehe ihr ihn darum bittet. Und dann kommt das Vaterunser,
das Gebet, das all das zum Ausdruck bringt, was notwendig ist, um als
Mensch sein Leben zu leben.

Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden.

Im Vaterunser verschiebt sich die Perspektive weg von uns selbst hin
zu Gott oder zu dem, was kommen soll. Im Vaterunser öffnet sich
der Horizont. Wir blicken nicht mehr in unsere eigenen, oft selbstsüchtigen
Wünsche und Träume, sondern wir verstehen, daß die Tage,
denen wir entgegengehen, Gott gehören, und daß wir in ihnen
wirken und sein sollen. Was die Tage bringen werden, wissen wir nicht.
Wir wissen nur, daß sie nicht leer sind. Sondern daß Gott
jeden Tag etwas von uns will. Jeden Tag stehen wir an der Schwelle zu
seinem Reich. Und ein einziger Tag ist ja in den Augen Gottes, mit all
dem, was er enthält, wie tausend Jahre. Im Vaterunser aber übertragen
wir es Gott, uns sehen zu lassen, was er will, uns die Wirklichkeit ergreifen
zu lassen, in der wir nach seinem Willen sein sollen.

Und dann beten wir:

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Heute gilt es. Wir können noch so weit nach vorne denken, und dann
sollen wir auch in gewissen Zusammenhängen. Heute aber spricht Gott
zu mir und fordert mich. Heute schenkt uns Gott das, was notwendig ist,
damit wir unser Leben leben können.

Und vergib uns unsere Schuld.

Eine Bitte darum, daß uns all das, was wir nicht getan haben,
all das was wir nicht gewagt haben, all das Böse, das wir getan
haben, daß all dies uns nicht bindet und unfrei macht, uns nicht
daran hindert, in die Welt hineinzutreten, die vor uns liegt, offen und
neu.

Wie auch wie vergeben unsern Schuldigern.

Das bedeutet, daß wir auch einander frei machen, daß wir
einander neu sehen und begegnen.

Und erlöse uns von dem Bösen.

Wir wissen, daß das Böse uns heimsuchen kann, daß wir
eingeschlossen werden im bösen und bitteren Leben des Hasses
und des Neides. Herr erlöse uns von allem, was böse ist. Damit
für uns und andere sichtbar wird: Dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Das ist der ewige, offene Horizont im Vaterunser. Das ist der Eingang,
das Portal, das in das neue Jahr hineinführt. Ja in jeden neuen
Tag, vor dem wir morgen stehen. Das Vaterunser stellt uns in das rechte
Verhältnis zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen uns und unserem
himmlischen Vater, der uns jeden Tag das tägliche Brot schenkt.

Wir wenden uns dem Gott des Himmels zu, um alles zu empfangen, was ihm
gehört. Darin liegt eine tiefe und unerklärliche Geborgenheit
trotz aller Sorge und Not in der Welt. Ja, es ist als wäre der Himmel
Gottes schon um uns, auch wenn unser Dasein noch so irdisch und schwierig
ist.

Wir wissen nicht, was heute, morgen und in den nächsten vielen
Jahren auf uns zukommt. Aber wir wissen: Wenn wir eine Zukunft haben,
dann begegnet uns Gott in ihr. Gott, der von Ewigkeit zu Ewigkeit ist,
und der bei uns ist mit dem Leben der Ewigkeit jeden einzigen Tag. Amen.

Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 – 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk

de_DEDeutsch