Römer 11, 25-32

Römer 11, 25-32

Balanceakte
Predigt für den 10. Sonntag nach Trinitatis am 15. August 2004
in der Kloster- und Wallfahrtskirche zu Göttingen-Nikolausberg
von Ulrich Braun

Predigttext: Römer 11, 25-32
Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen,
damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem
Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum
Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben
steht (Jesaja 59,20): «Es wird kommen aus Zion der Erlöser,
der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund
mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.»
Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber
im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter
willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.
Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit
erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam
geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch
sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.
Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller
erbarme.

Liebe Gemeinde!
I.
Es ist seltsam mit der Religion. Da geht es um die Seele und ihren Gott,
um Gott und die Seele, um das Erlebnis, den Schöpfer des Himmels
und der Erde zum Vater zu haben. Es geht um die Zugehörigkeit zu
Gott. Zugleich ist aber das Gefühl der Gottesnähe in ebenso
hohem Maße flüchtig, wie die Sehnsucht groß ist, es
als Gewissheit auf Dauer zu stellen. Und genau dieser Sehnsucht mögen
die Lehren von einer Erwählung einer Gruppe oder eines Volkes durch
Gott als probates Mittel erwiesen haben, nämlich die Zugehörigkeit
zu Gott vom eigenen religiösen Empfinden ab- und an eine Gruppen-
oder Volkszugehörigkeit anzukoppeln.
Die Vorteile dieser Vorstellung liegen auf der Hand. Gehöre ich
zur Gruppe der Erwählten, ist mir das Heil gewiss – selbst
dann, wenn ich zeitweise gar keinen inneren Bezug dazu habe. Die Nachteile
der Vorstellung müssen wir ebenfalls nicht lange suchen. Wo Erwählung
ist, da muss auch Nicht-Erwählung sein – mehrheitlich sogar,
weil die Ausgewählten doch allermeist eine Minderheit sein werden.
Wenn man genau sagen kann, wer dazu gehört, wer also durch diese
Zugehörigkeit zu einer Gruppe seiner Zugehörigkeit zu Gott
gewiss sein darf, dann lässt sich auch sagen, wer nicht dabei ist.

In den Anfängen des Christentums vollzieht sich ein religiöses
Drama um genau diese Kategorie der Erwählung. Die Gemeinden nennen
sich „ekklesia“, die Herausgerufenen, die Ausgewählten
und Berufenen. Und sie erzählen einander die Geschichten der Verheißung
und davon, dass nun mit dem Christus, dem Messias, sich diese Verheißungen
erfüllt haben. Und sie erzählen einander von der aller Verheißung
zugrunde liegenden Erwählung. Von der Erwählung Israels natürlich,
was nahe liegt, weil die ersten Christen ja Juden wie Jesus sind. Sie
leben von den Worten der Propheten, und sie kennen ihren Jesaja.
Doch die Rede von dem Christus bleibt nicht in den kulturellen Grenzen
Israels. So, wie Jesus von der Seele und ihrem Gott geredet, so, wie
er den Schöpfer des Himmels und der Erde als seinen Vater empfunden
hat, so können das auch die Griechen verstehen, die Römer
und all die andern Völker, die man in Abgrenzung zu den Erwählten
Israels kurzerhand Heiden nennt.
Auch die Rede von der Erwählung bleibt den Völkern nicht verschlossen.
Nicht sie kommen zu Gott, sondern Gott kommt ihnen entgegen. Er ist
Mensch geworden, hat das Leben und sogar den Tod mit ihnen geteilt.
Wie will man das anders als „Erwählung“ bezeichnen?
Gott hat sich für sie, die Menschen entschieden. Er macht keine
Unterschiede nach Grieche, Jude oder Römer. Es gilt nur noch das
Christusbekenntnis.

II.
So, und damit entsteht ein Problem. Nicht, dass dieser Erwählungsgedanke
grundsätzlich falsch wäre. Gott ist den Menschen nahe gekommen
in der Religion Jesu. Der Schöpfer des Himmels und der Erde soll
ihr himmlischer Vater genannt werden. Allein: wenn die Zugehörigkeit
durch das Christusbekenntnis bestimmt ist, dann kann man auch sagen,
wer nicht dazugehört, wer also nicht erwählt ist.
Und damit gerät diese neue Erwählung in Konkurrenz zu der
alten, zur Erwählung Israels. Da nun die Trennung der Christen
von der jüdischen Gemeinde und der jüdischen Gemeinde von
den Christen in dieselbe Zeit fällt, man sich also nicht mehr in
der Synagoge, sondern an eigenen Versammlungsorten trifft, stehen Entscheidungsfragen
an: Wer ist denn nun erwählt? Gibt es verschiedene Formen der Erwählung,
verschiedene Wege zur Gottesnähe oder gar verschiedene Grade?
Die Römer mögen zu bestimmten Zeiten frühe Formen religiöser
Toleranz gekannt haben. Eine besondere Stärke des frühen Christentums
ist die religiöse Toleranz nicht. Da werden Herrenworte überliefert,
die eine andere Auslegung erfahren: „Ich bin der Weg, die Wahrheit
und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich“. Und die
Konkurrenz zu einer besonderen Hochschätzung des Gesetzes als eines
ausgezeichneten Weges zu Gott, wie sie in maßgeblichen Teilen
Israels geübt wurde, zeichnet sich überdeutlich in die Evangelien
ein.
Israel wird streckenweise zur dunklen Folie, auf der der ganze Glanz
de neuen Religion erst recht zum Strahlen gebracht wird. Lange wird
man auch auf die Rede von den Juden als Christus- und als Gottesmörder
nicht mehr warten müssen. Ausgerechnet, sie, die doch die Verheißungen
kannten, ausgerechnet sie haben den Messias, als er dann kam, nicht
erkannt, sondern verachtet.

Anders gesagt: Um sich der eigenen Erwählung um Christi willen
gewiss zu machen, weiß man mit einem Mal, wer zu den Erwählten
auf keinen Fall gehören kann: die Juden. Denn die halten, man kann
es nicht anders als störrisch nennen, an ihrer alten Religion fest.
Zweifellos sind sie nicht nur nicht erwählt, sondern geradezu verworfen.
Und auch dazu wird man genügend Schriftstellen gefunden haben,
über das halsstarrige Volk, dem Gott die weitere Bündnistreue
verweigern will um ihrer Missetat willen.
Mit solcherlei antijudaistischer Polemik hat es Paulus in unserer Römerbriefstelle
zu tun. Er hält fest, dass Gott sich seine Erwählung Israels
nicht gereuen lassen wird. Mit anderen Worten: er wird an dem festhalten,
was er Abraham verheißen, was er Mose gewährt und dem Volk
beim Durchzug durch das Schilfmeer machtvoll bewiesen hat. Er wird nicht
von seinem Bund abrücken, den er am Sinai geschlossen hat.
Ganz offenbar stehen Paulus wüste Polemiken vor Augen, die in christlichen
Gemeinden kursiert sein dürften. Und diese wüsten Beschimpfungen
und wenig Nächstenliebe verströmenden Feindbilder müssten
uns auch heute gar nicht mehr interessieren, wenn sie sich nicht so
unglückselig fortgesetzt und in die Geschichte von Juden und Christen
eingezeichnet hätten.

Wenn Paulus sich schon im Brief an die Römer mäßigend
einmischt, tut er das wohl in dem Bewusstsein, dass er an der Entstehung
polemischer Fronten seinen Anteil hat. Im Galaterbrief hat der diejenigen,
denen an der Zugehörigkeit zur Synagoge und ihrer Regeln gelegen
ist, verspottet. Beschneidung sei nicht nur unnütz, sondern geradewegs
falsch, Verschneidung gewissermaßen, im Zuschnitt verdorben. Im
Philipperbrief blickt Paulus voller Abscheu auf seine eigene religiöse
Biographie als gesetzestreuer und -gelehrter Jude zurück. Für
außerordentlich schädlich halte er nun all das, was ihm dereinst
so wichtig gewesen war, lässt er seine Briefpartner wissen, und
scheut zu diesem Zweck auch vor Schimpfworten nicht zurück. Ein
„Dreck“ sei es, was er für Religion gehalten habe (Phil.
3,8). Man muss nicht Griechisch können, um zu ahnen, dass das griechsiche
Wort eigentlich das Wort gebraucht, das wir unseren Kindern mit guten
Gründen zu verbieten suchen.
Jetzt also rudert Paulus zurück. Vielleicht merkt er, dass sich
etwas verselbständigt hat, dass nämlich die Rede von der Nähe
Gottes, von Gemeinschaft der Seele und ihrem Gott, und der Rede über
die Juden so gar nichts mehr zu tun hat
Solange er, Paulus, nur über seine eigene religiöse Biographie
sprach, stand er selbst für das ein, was hinter sich gelassen hatte.
Es waren seine Irrtümer und seine Verirrung gewesen. Nun drohte
eine Lehre daraus zu werden, die von der Verwerfung Israels sprach,
die den Heilsplan Gottes in Übergängen beschrieb, bei denen
zunächst Israel das erwählte Volk wurde, dann aber dieser
Erwählung verlustig ging, weil es den verheißenen Messias
nicht anerkannte. Es macht einen großen Unterschied, ob einer
von seinem eigenen Weg mit Gott und Gottes Wegen mit ihm erzählt,
oder ob eine allgemeine Lehre über Erwählung und Verwerfung
im Entstehen begriffen ist.

Ganz vermag sich Paulus diesen allgemeinen Erwägungen nicht zu
entziehen. Wie auch? Sein ganzes religiöses Leben war davon bestimmt
gewesen. Und so formuliert er, dass Israel durchaus verstockt sei, geradezu
rettungslos uneinsichtig in den Weg Gottes mit seinen Menschen sei.
Die Verstockung aber sei selbst eine geradezu notwendige Maßnahme,
damit nämlich klar wird, dass es keinen abgesicherten Weg zu Gott
gibt – außer dem, den Gott selber geht.
Diese – nennen wir es mit Paulus – Verstockung Israels diene
den Christen also nicht dazu, sich nun für etwas Besseres zu halten.
Es diene ihnen aber zum Bild dafür, dass es keinen Weg zu Gott
geben wird, der über besondere Übungen, besondere Enthaltsamkeit,
besondere Strenge oder besonderen Glaubenseifer führt. Auch keinen,
der an einer besonderen Gruppen- oder Volkszugehörigkeit hängt.
Es ist eben nicht Gott im Gesetz, in der Frömmigkeit, in der Enthaltsamkeit,
in guten und wichtigen Übungen oder in unnützem Eifer. Es
ist Gott in der Seele. Die Seele, in der empfunden wird, dass der Schöpfer
des Himmels und der Erde unser himmlischer Vater genannt werden darf.
Jesus von Nazareth ist nicht anders zu verstehen gewesen, als dass man
ihn in den Kategorien der Erwählung des Gottesvolkes, der Verheißung
und schließlich der messianischen Erfüllung begriffen und
gedeutet hat. Dafür wird die Tradition auf immer von unüberbietbarem
Wert sein. Es ist eben die Geschichte Israels, auf deren Boden sich
diese Religion Jesu hat entwickeln können. Dann aber hat sie in
der Person Jesu die Beschränkungen der Erwählung eines Volkes
abgestreift und den unendlichen Wert der einzelnen Menschenseele entdeckt.

Diese Entdeckung führt nun etwas herauf, was schon im Glauben Israels
grundgelegt und formuliert ist. Die Völker, alle Völker, sollen
nun zum Gottesberg ziehen. Nicht mehr Erwählung und Nicht-Erwählung
sollen sein, sondern die unbedingte Gottesnähe für jeden,
der sich davon anrühren lässt.

Also: keine Frage, dass auch für diese Vorstellung die religiösen
Bilder Israels gebraucht werden. Keine Frage auch, das Israel auf immer
in die Geschichte der Gottesnähe und der Sehnsucht danach hinein
gehört. Keine Frage, dass, wer anfängt, menschliche Regeln
und Satzungen über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit
zu entwerfen, auf dem besten Wege ist, das Verständnis für
das Reich Gottes zu vernebeln und zu verrammeln.
Wir wissen nicht, ob Paulus seine eher wüsten Beschreibungen der
jüdischen Religion an anderen Schriftstellen ausdrücklich
bereut hat. Hier im Römerbrief ist er klug genug gewesen, den bleibenden
Wert Israels für die religiöse Sprache und ihre Bilder zu
beschwören, vor den Gefahren zu warnen, die aus schnell gestrickten
Erwählungslehren erwachsen, und die Freiheit Gottes festzuhalten,
sich seiner Menschen zu erbarmen, und daran zu erinnern, dass jeder
und jede die eigenen Irrtümer begehen wird, deretwegen wir auf
die Gnade und Barmherzigkeit Gottes angewiesen sind. „Lass dir
an meiner Gnade genügen“ schreibt Paulus an anderem Ort (2.
Korinther 12,9).
In jedem Falle gaukelt euch nicht sichere Gottesnähe dadurch vor,
dass ihr Zugehörigkeitsregeln formuliert, die nur wieder andere
aus der Gemeinschaft mit Gott ausschließen. Ihr kommt Gott damit
kein Deut näher und bringt nur wieder alles durcheinander. Lasst
euch damit genügen, dass Gott selbst diese Nähe schon herstellen
wird und dass ihr den Schöpfer des Himmels und der Erde euren Vater
nennen dürft.
Amen

Ulrich Braun
Pastor in Göttingen Nikolausberg
eM@il: ulrich.braun@nikolausberg.de

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