Römer 1,16-17

Römer 1,16-17

Die Gerechtigkeit wird handfest | 3. Sonntag nach Epiphanias | 22.01.2023 | Röm 1,16-17 | Thomas Muggli-Stokholm |

Ich schäme mich des Evangeliums nicht; eine Kraft Gottes ist es zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen.

Gottes Gerechtigkeit nämlich wird in ihm offenbart, aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte aber wird leben. (Römer 1,16 und 17)

Diese zwei Verse verändern vor 500 Jahren die Welt: Sie lösen bei Martin Luther die reformatorische Wende aus. Zuvor bemüht er sich jahrelang, ein gutes, gerechtes und Gott wohlgefälliges Leben zu führen. So studiert er Theologie, gegen den Willen seines Vaters, der für ihn eine Laufbahn als Jurist vorgesehen hatte. Er tritt in den Augustinerorden ein und befolgt dessen Regeln minutiös und perfektionistisch.

Je länger je mehr erkennt Luther jedoch, dass er sein Ziel nie erreichen kann. Zum einen wird ihm zunehmend die Verlogenheit und Heuchlerei der damaligen Kirche bewusst. Zum andern erkennt er seine eigene Schwäche und damit die Unmöglichkeit, vor Gott und seiner Gerechtigkeit zu bestehen. Luther ist der Verzweiflung nahe. Ja, er hasst sich und mit der Zeit sogar Gott selbst, weil der ihn mit seinen übermenschlichen Forderungen ins Elend stürzt.
Irgendwann zwischen 1511 und 1513 kommt es zur befreienden Erleuchtung. Die Legende erzählt, wie Luther nachts in seinem Arbeitszimmer im Turm des Augustinerklosters Wittenberg unseren Predigttext meditiert. Und plötzlich geht ihm ein Licht auf: Er erkennt, dass die Gerechtigkeit Gottes keine Forderung, sondern ein Geschenk ist. Gott rechtfertigt in seiner Barmherzigkeit den sündigen Menschen und schenkt ihm – der eigentlich den Tod verdient hätte, das Leben.

Für Luther ist dies die rettende Wende, der Weg aus seiner tiefen Lebenskrise. So schreibt er[1]:  Hier spürte ich, dass ich völlig neu geboren sei … Und so sehr ich die Vokabel Gerechtigkeit Gottes gehasst hatte, so viel mehr nun hob ich dieses süsse Wort in meiner Liebe empor, so dass jene Stelle bei Paulus mir zur Pforte des Paradieses wurde.

Ich schäme mich des Evangeliums nicht; eine Kraft Gottes ist es zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen.

Gottes Gerechtigkeit nämlich wird in ihm offenbart, aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte aber wird leben.

Vor 500 Jahren lösten diese Worte die Reformation aus, ohne welche die Gegenwart ganz anders aussähe. Wäre so etwas in der heutigen Zeit denkbar? Um diese Frage zu klären, las ich unseren Predigttext kirchlich distanzierten Freunden vor. Ich erntete nur ratloses Schulterzucken und verlegenes Lachen.

Darum will ich versuchen, unseren Text mit möglichst weltlichen Worten in die Gegenwart zu übersetzen – eine Herausforderung, denn Paulus packt in die beiden Verse eine Fülle an theologischen Schlüsselbegriffen: Evangelium, Kraft Gottes, Rettung, Gerechtigkeit, Offenbarung, Glaube.

Eine Brücke bildet die Gerechtigkeit, deren Bedeutung bis heute zentral bleibt. So wird eine Menge Geld in die Justiz investiert. Und deren Unabhängigkeit ist ein zentraler Gradmesser für den demokratischen Staat: Nur wenn das Gericht frei und unabhängig von der Legislative und Exekutive einzig aufgrund der Gerechtigkeit entscheidet, kann Machtmissbrauch verhindert und ein Zusammenleben in Freiheit und Gleichberechtigung garantiert werden. Zugleich ist Gerechtigkeit als Grundwert heftig umstritten. Je nach politischer Haltung herrschen sehr unterschiedliche Ansichten zur Frage, wann die Mittel und Möglichkeiten gerecht verteilt sind. Die Diskussion um faire Löhne ist ein Beispiel: Die einen fordern im Namen der Gerechtigkeit möglichst geringe Lohnunterschiede. Andere meinen, dass es nur recht und billig ist, wenn Personen, die eine grosse Verantwortung übernehmen, entsprechend mehr verdienen. Die Diskussion zur Gerechtigkeit wird noch komplexer im internationalen Zusammenhang: Dass nicht nur der Reichtum weltweit ungerecht verteilt ist, sondern auch dessen Schattenseiten und ihre Folgen wie Klimakrise und Zerstörung der Lebensgrundlagen. Das ist unbestritten. Betreffend Konsequenzen ist man sich aber völlig uneinig. Werden alle gleich wohlhabend wie die Reichsten, führt das mit Garantie zum Kollaps. Will man die vorhandenen Ressourcen gerechter verteilen, müssen die Reichsten verzichten, wozu sie nicht bereit sind.

So ist und bleibt die Welt ungerecht. Für viele Menschen ist das der Anlass, die Existenz Gottes in Frage zu stellen. Wie kann man an einen guten und gerechten Gott glauben, wenn man sich das Unrecht dieser Welt vor Augen hält?

Klar, manche machen es sich mit dem Abschied von Gott allzu leicht. Sie lassen ausser Acht, dass ein grosser Teil des Unrechts menschengemacht ist. Anderes stellt Gott tatsächlich in Frage: Warum müssen die einen Menschen leiden und früh sterben, während andere sorglos uralt werden? Warum lässt Gott Naturkatastrophen zu, die Unschuldige in den Tod reissen?

Die Gerechtigkeit Gottes bleibt auch in religiöser Sicht ein schmerzvolles und unlösbares Geheimnis. Die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts, wo die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, stiftet mehr Schaden als Nutzen. Denn die Vertröstung auf ein gerechtes Jenseits verhindert, dass wir hier und jetzt nach der Gerechtigkeit trachten, wie Jesus in der Bergpredigt fordert.

So zentral die Gerechtigkeit bis heute bleibt, so vertrackt ist es, sie zu realisieren. Und der Abschied von einem gerechten Gott macht die Lage nicht einfacher. Es stellt sich nämlich jetzt die Frage, worin der Massstab für eine Gerechtigkeit ohne Gott besteht. Hier kommt die Scham ins Spiel, mit welcher Paulus unseren Predigttext beginnt: Ich schäme mich des Evangeliums nicht …

Scham kennen wir alle. Wir schämen uns, wenn wir uns daneben benommen haben, wenn wir Erwartungen enttäuschen, uns nicht so verhalten, wie es sich gehört. Im Zusammenhang mit Gerechtigkeit können wir zwei Haltungen ausmachen: Die schamlose und jene, wo Scham erdrückt. Der schamlose Mensch legt die Latte tief. Er ist froh, dass es keinen Gott und keine moralische Instanz mehr gibt, die ihn in seiner Freiheit einschränkt. Er setzt sich seine Werte so, dass es am besten für ihn passt und immer mit dem Argument, dass es noch Schlimmere gibt als er selbst.

Auf der anderen Seite stehen die vielen Menschen, welche ähnliche Lebenskrisen durchmachen wie seinerzeit Martin Luther: Sie sehen das Unrecht der Welt. Sie kämpfen für bessere Verhältnisse und überfordern sich mit ihren Massstäben.

Paulus gehört wie Martin Luther zu dieser zweiten Gruppe: Bis zu seiner Bekehrung in Damaskus ist er überzeugter pharisäischer Jude. Er setzt alles daran, ein gutes und gerechtes Leben zu führen, indem er die Gebote der Tora minutiös hält. Und er scheitert täglich an diesem übermenschlichen Anspruch, schämt sich vor Gott und vor sich selbst.

Ich schäme mich des Evangeliums nicht … Evangelium heisst wörtlich übersetzt gute Nachricht. Gerade in der heutigen Zeit sind gute Nachrichten rar. Wir hören vor allem Schlechtes: Bestürzendes aus der Ukraine und anderen Kriegsgebieten, Alarmierendes aus Afghanistan und weiteren Ländern, wo Menschenrechte mit Füssen getreten werden, Hoffnungsloses aus Konferenzen zur Zukunft der Erde.

Da ist der Hunger nach guten Nachrichten gross. Was aber ist eine gute Nachricht? Die Antwort auf diese Frage hängt von unseren Lebensumständen ab. Für den einen ist es eine unerwartete Beförderung, für die andere eine bestandene Prüfung. Im Allgemeinen bewerten wir die Nachrichten als gut, welche unsere Erwartungen und Wünsche erfüllen. Bei der guten Nachricht, von welcher Paulus spricht, verhält es sich anders. Das hat er selbst erfahren: Als ihm Jesus vor Damaskus begegnet, wird er zu Boden geworfen und sieht drei Tage lang nichts mehr. Die gute Nachricht begegnet Paulus als fremdes Wort, welches seine Wünsche und Ziele durchkreuzt und sein Leben von Grund auf verändert.

Eine wahrhaft gute Nachricht sagen wir uns nicht selbst. Sie wird uns zugesprochen. Und sie lässt nicht alles beim Alten. Sie kommt uns in die Quere, stört uns auf, bringt Dynamik ins Leben.

Darum spricht Paulus vom Evangelium als einer Kraft Gottes, zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen. Juden und Griechen sollen gerettet werden, sollen herausgerissen werden aus dem Gewohnten, aus Leid, Unrecht und Tod in das Leben, wo allein der Glaube zählt.

Juden und Griechen, Gläubige und Heiden: Paulus zählt bewusst beide auf. Die Dynamik des Evangeliums sprengt die herkömmlichen Verhältnisse, die Volkszugehörigkeit, die traditionellen Muster und Werte. Nicht mehr die Herkunft zählt, sondern die Kraft, die im Evangelium auf jene zukommt, die glauben, die dem Wort, das sie sich nicht selber sagen können, Vertrauen schenken und sich von ihm bewegen lassen.

Im nächsten Vers macht Paulus noch deutlicher, was er meint: Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium offenbart aus Glauben zu Glauben. In diesen Worten liegt eine gewaltige Sprengkraft. Eben haben wir doch erkannt, dass die Gerechtigkeit schon in weltlicher Sicht ein diffuser und hoch umstrittener Wert ist und Gottes Gerechtigkeit erst recht rätselhaft bleibt. Und nun kommt Paulus und behauptet, die Gerechtigkeit Gottes offenbare sich im Evangelium – aus Glauben, zu Glauben.

Ich versuche wieder, mich diesem Anspruch möglichst weltlich anzunähern. So fromm das Wort Glaube in unseren heutigen Ohren tönt. Eigentlich ist damit Urmenschliches gemeint. Glaube meint zuerst Vertrauen. Ohne Vertrauen, ohne Beziehungen, die Halt und Geborgenheit schenken, überlebt kein Mensch. Aber auch am Glauben im Sinn des Fürwahrhaltens von nichtbeweisbaren Gegebenheiten kommt niemand vorbei. Selbst der Mensch, welcher behauptet, er glaube nur, was er sehe, trifft eine nicht beweisbare Vorentscheidung: Er geht davon aus, dass das, was er sieht, der Wirklichkeit entspricht. Doch woher will er das wissen?

Paulus lädt uns zu einem Sehen und Hören ein, das der Wirklichkeit Raum lässt, die ganz anders sein kann, als unser begrenzter Verstand es annimmt:

Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium offenbart. Hören wir, was uns die gute Nachricht sagt, erkennen wir Gottes Gerechtigkeit. Die gute Nachricht ist untrennbar verknüpft mit dem, was Jesus uns vorlebt und verkündigt. Das Wort Gottes wird in Jesus Mensch. Das heisst: Gottes Gerechtigkeit bleibt nicht im Himmel. Sie kommt hinab zur Erde und begegnet uns im Menschen Jesus. Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium offenbar, nicht als abstraktes Prinzip, sondern als Einladung, uns mit Gott versöhnen zu lassen und Jesus nachzufolgen auf seinem Weg zu den Menschen, auf dem Weg, wo das Böse nicht mit Gewalt, sondern mit Liebe und Hingabe bis in den Tod besiegt wird. Im Glauben stellen wir uns dieser Zumutung. Wir gehen den Weg im Vertrauen, dass niemand und nichts uns aus der Hand von Jesus reissen kann.

Unser Text endet mit einem Zitat aus dem Buch Habakuk: Der aus Glauben Gerechte wird leben.  Leben wollen wir alle, Juden und Griechen, Gläubige und Ungläubige. Und wahrscheinlich unterscheiden sich unsere Vorstellungen von erfülltem Leben gar nicht so sehr. Leben verdichtet sich bei Höhepunkten wie zum Beispiel einer Wanderung in unberührter Natur, beim festlichen Zusammensein mit Menschen, die uns vertraut und wohlgesinnt sind, an einem Konzert, einer Theateraufführung oder einer anderen kulturellen Veranstaltung. Sowohl Paulus wie später auch Martin Luther sind diesbezüglich keine Kostverächter. Und doch machen sie uns ein Mehr an Leben schmackhaft – als im Glauben Gerechte.

Wir sind eingeladen, unser Leben, alles, was wir tun und lassen, denken und planen,

ins Licht des Evangeliums zu stellen, in welchem sich die Gerechtigkeit Gottes offenbart.

Die ignatianische Tradition kennt das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit: Es lädt uns ein, am Ende des Tages einen Moment zu verweilen und im Licht der Liebe Gottes Bilanz zu ziehen: Manches, was wir heute getan haben, wird dabei enthüllt als leerer Schein. Anderes leuchtet kostbar auf – vielleicht ganz unerwartet. Anschliessend schauen wir voraus auf den kommenden Tag mit seinen Chancen und Herausforderungen. Und wir bitten Gott um Weisheit, die Geister zu unterscheiden, und die Einsicht, Wege des Segens zu gehen und als Gerechtgesprochene zu leben.

Gottes Gerechtigkeit nämlich wird im Evangelium offenbart,

aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht:

Der aus Glauben Gerechte aber wird leben.

Vor 500 Jahren gaben diese Worte Martin Luther Boden unter die Füsse und Kraft, für die Erneuerung der Kirche und die Wiederentdeckung des Evangeliums zu kämpfen. Wir leben in einer ganz anderen Zeit, einer Zeit, wo die meisten Menschen die Sprache des Glaubens nicht mehr verstehen. Die Sehnsucht nach dem Evangelium, nach der Kraft Gottes, die gerecht macht und Vertrauen schenkt, bleibt aber gross. So sind wir herausgefordert, uns nicht zu schämen und nicht zu verzagen, sondern dieses Evangelium mit Worten und Taten in die Welt zu tragen. Amen.

[1] Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Schriften 1545

de_DEDeutsch