Römer 13, 8-14

Römer 13, 8-14

Liebe Gemeinde,

wenn morgens der Wecker klingelt, ist die Nacht vorbei. Wir reiben uns
schlaftrunken die Augen und blinzeln ungläubig dem Tageslicht entgegen.
Und ob wir wollen oder nicht – jetzt heißt es: Aufstehen. Zugegeben:
Ich kenne angenehmere Geräusche als das Weckerklingeln am Morgen.
Der Wecker scheucht uns ja unbarmherzig aus unserer nächtlichen
Traumwelt, in der wir uns für ein paar Stunden die Wirklichkeit
zusammenphantasiert haben. Unsanft werden wir wieder mit dem grauen Alltag
konfrontiert. Da möchte man sich oft am liebsten noch einmal auf
die andere Seite drehen und sich die Bettdecke über den Kopf ziehen.
Und manche tun das ja auch. Während die einen schon das erste Mal
wieder müde sind von der Arbeit, kommen andere vor elf nicht aus
den Federn und räkeln sich noch mittags gähnend im Morgenmantel.
Ja, mit dem Aufstehen ist das so eine Sache.

Aber kennen Sie nicht auch Tage, an denen Ihnen das Aufstehen ganz leicht
fällt? Tage, wo man fast beschwingt aus den Federn springt, weil
der heraufziehende Morgen etwas erwarten lässt, auf das man sich
freut? In einem Urlaub auf der Insel Rhodos bin ich mit meiner Frau einmal
sehr früh aufgestanden. Noch bei Dunkelheit sind wir ans Meer gegangen.
Wollten eher da sein als die Sonne. Nur zögernd hellte sich der
Horizont auf. Erste Vorahnung, dass der Sonnenaufgang nicht mehr lange
auf sich warten lassen würde. Und dann war es so weit: Der gleißende
Feuerball stieg langsam aus den Fluten. Ein faszinierendes Schauspiel,
mit dem wir für unser frühes Aufstehen belohnt wurden. Es wurde
Tag vor unseren Augen – und wir haben diesen Tag mit Freude begrüsst.

„Aus den Federn, ihr Christen! Begrüßt den anbrechenden Tag!“,
höre ich Paulus in unserem Bibelwort rufen. „Es ist Zeit, höchste
Zeit, aufzustehen vom Schlaf . Die Nacht ist vorgerückt,
der Tag nahe herbeigekommen.
Spüren Sie es? Das ist kein erbarmungsloses
Weckerrasseln, das uns wieder mal in den grauen Alltag scheucht. Hier
hetzt uns auch niemand in einen besinnungslosen Vorweihnachtsstress,
der uns dann am Heiligen Abend erschöpft unter dem Tannenbaum sitzen
lässt. Hier werden wir zum Aufstehen verlockt, weil gespannte Vorfreude
in der Luft liegt. Kein grauer Alltag, ein heller Morgen kündigt
sich an. Paulus zieht den Vorhang schon einmal auf, damit unser Gesicht
von den ersten Strahlen der Sonne berührt wird, sobald sie aufgeht.
Aus den Federn, ihr Christen! – ruft er uns zu. Erhebt euch vom Lager
der Glaubensmüden, vom Schlummerkissen christlicher Gewohnheit!
Da kommt etwas auf euch zu, das eure ganze Wachheit braucht! Reibt euch
den Schlaf aus den Augen, ihr Christen! Denn die Nacht ist vorgerückt,
der Tag aber nahe herbeigekommen!

Nun trifft das nicht unbedingt unser heutiges Lebensgefühl, dass
die Nacht im Schwinden ist und ein neuer Morgen naht. Wir stehen eher
unter dem gegenteiligen Eindruck, dass die Dunkelheit auf dieser Erde
zunimmt: Weltweit politische und religiöse Konflikte. Wachsende
soziale Spannungen. Die vielfach beschworene Solidarität verkümmert.
Die Liebe scheint mehr und mehr zu erkalten. Es sieht finster aus. Und
weil wir noch so viel Dunkles sehen, ziehen auch wir Christen uns immer
wieder gern die Decke über den Kopf. Aber Paulus zupft an unserer
Bettdecke: Ihr Christen, bleibt nicht hoffnungsmüde und resigniert
liegen! Verkriecht euch nicht wie so viele andere ins Bett der Zukunftsangst.
Ja, noch ist es dunkel. Aber der Tag, Gottes Tag lässt bereits grüßen.
Spätestens seit dem Ostermorgen ist der böse Traum ausgeträumt,
der Albtraum, dass diese Erde nichts Gutes mehr zu erwarten hat. Christus
ist gekommen. Und er kommt neu. Er kommt auf diese Welt zu – und mit
ihm das Licht. Darum steht auf, geht ihm entgegen, indem ihr selbst Licht
verbreitet!

Wer morgens aus dem Bett steigt, der hängt den Schlafanzug an den
Nagel und zieht sich Tageskleidung an. Wer dem Tag Christi entgegengehen
will, der sollte das auch tun – sollte sein Nachtgewand ablegen. Ich
zumindest möchte Christus nicht so gern im Schlafanzug entgegenlaufen.
Im Nachthemd rennen in der Regel nur Menschen auf die Straße, die
in Panik geraten sind. Wir aber gehen auf ein großes Fest zu, auf
das Fest der Mensch gewordenen Liebe Gottes, die diese kalte Erde erwärmt.
Zur Vorfreude auf dieses Fest passt kein zerknittertes Nachthemd. Auch
nicht die Schlabberjeans des grauen Alltags. Dieses Fest verlangt nach
festlicher Kleidung. Und so führt uns Paulus in die adventliche
Kleiderordnung ein: Legt das Nachtgewand ab, sagt er. Zieht euch tagesgemäß,
zieht euch festlich an! So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis
und anlegen die Waffen des Lichts!

Und dann zählt Paulus in deftigen Worten auf, was wir an Nachtklamotten
getrost an den Nagel hängen können: Fressen und Saufen,
Unzucht und Ausschweifung, Hader und Eifersucht
. Wo die Nachtmenschen
in die Festtage hineintaumeln im Rennen und Kaufen, Fressen und Saufen,
da legen Christen als Tagmenschen anderes an den Tag. Sie wehren sich
mit den „Waffen des Lichts“ – mit klaren, hellen Worten und
Zeichen. Wehren sich durch Nüchternheit gegen alles Rauschhafte,
das die Sinne benebelt und immer Ausdruck eines verfinsterten Horizontes
ist. Christen wehren sich gegen die Konsumhektik, die unser Herz ans
Materielle bindet und die wirkliche Weihnachtsfreude oft schon im Keim
erstickt. Sie brauchen nicht den ständig neuen „Kick“, um herauszupowern,
was das Leben hergibt. Christen verweigern sich, wo das Schenken und
Beschenktwerden zum lieblosen Warenaustausch verkommt, der Hader und
Eifersucht nach sich zieht. Sie sorgen in diesen Wochen der Schlemmerei
nicht nur für ihren Bauch, sondern auch für ihre Seele. „Sorgt
für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt“,
sagt
Paulus.

Ja, wer aufsteht vom Nachtlager und auf den Tag, auf den kommenden Christus
zugeht, der unterscheidet sich von denen, die weiter im Düsteren
dahindämmern und dahindösen. Der zieht sich Festtagskleidung
an. Paulus hat uns diese Kleidung schon neben unserem Bett bereit gelegt.
Er weiß, welches Festgewand zur Adventszeit passt und uns jetzt
vor Weihnachten gut zu Gesicht steht: „Zieht an den Herrn Jesus Christus“, schreibt
er den Christen in Rom.

„Den Herrn Jesus Christus anziehen“ wie ein Gewand? Wie soll das gehen?
Ist dieses Kleid nicht mehrere Nummern zu groß für uns? Oder
schneidert Gott es auf unsere Größe zurecht? Den Herrn Jesus
Christus anziehen – das heißt zuerst: Sich selbst etwas Gutes gönnen.
So wie ich mich zunächst selbst daran freue, wenn ich etwas Neues
zum Anziehen bekomme. In Christus ist Gottes Liebe erschienen. Wer Christus
anzieht, der lässt sich deshalb von Gott in den Mantel seiner menschenfreundlichen
Liebe einhüllen. Auf dieses Gewand muss niemand sparen wie auf ein
teures Weihnachtsgeschenk. Das gibt es gratis für alle, die nicht
wissen, was sie anziehen sollen, wenn der Tag heraufzieht. Der Mantel
der Liebe Gottes wärmt und schützt uns in kalter, rauher Nacht.
Er bedeckt unsere Blöße und Armut vor Gott. Ein adventlicher
Mensch ist zuerst einer, der spürt, dass er das Kleid der wärmenden
Liebe Gottes selber braucht. Und der nicht zu stolz ist, es sich von
Gott anziehen zu lassen.

Aber wo das geschieht, da werden wir in diesem Festgewand nun auch selbst
zu liebenden Menschen. Kleider machen Leute. Machen aus Nachteulen Tagmenschen.
Das ist das Kennzeichen der Christen, dass sie die Schmuddelklamotten
der Selbstsucht ausziehen und das Christuskleid, das Kleid der Liebe
anlegen. Der Nacht nicht mehr dienen, dem Tag entgegengehen, das heißt: Seid
niemandem etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt;
denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt.

Liebe ist ein zerfranstes Wort. Es braucht Heilung. Liebe meint ja nicht
die schönen Gefühle, die ich für einen anderen habe. Liebe
meint den anderen selbst. Liebe ist Wachheit, innere Offenheit für
das, was der andere braucht. Ist Zuwendung, die leidenschaftlich am Gelingen
fremden Lebens interessiert ist. Für Eheleute kann Liebe heißen:
Jetzt in der Adventszeit wieder intensive Beziehungsarbeit aufnehmen.
Zeit haben für das aufmerksame, einfühlsame Gespräch.
Dem Schweigen, dem „kleinen Tod der Ehe“, entgegenwirken. Für einen
Vater kann Liebe zu seinen Kindern bedeuten: Nicht zum Familienflüchter
werden, der in seiner Arbeit aufgeht. Den Monolog der Kinder mit dem
Computer durch einen Dialog unterbrechen, der zeigt: Ich bin an euch
interessiert. Für eine Gemeinde kann Liebe bedeuten: Diejenigen
neu wahrnehmen, die aus dem Blick geraten sind. Denen ein Dankeschön
sagen, die oft im Verborgenen die Arbeit machen. Achtsam miteinander
umgehen gerade in der Vorweihnachtszeit, in der unsere Seele besonders
empfänglich, aber auch besonders verletzlich ist.

„Zieht an den Herrn Jesus Christus“. Dieses Kleid der Liebe
sollen wir nun aber auch draußen tragen. Auf der Straße,
wo mancher in zerlumpten und abgerissenen Klamotten liegt. Die Welt scheint
kälter zu werden. Solidarität geht verloren im Ringen um das
größte Stück vom Wirtschaftskuchen. Neue Armut wächst.
Die sozialen Netze drohen zu reißen, die Auffangnetze für
die, die Hilfe brauchen. Sicher – viele Probleme werden sich nur durch
einschneidende politische Reformen lösen lassen. Aber wir Christen
dürfen in dieser Situation nicht nur wie die anderen nach dem Staat
schreien. Wir tragen das Kleid der Liebe, können andere damit wärmen,
sie mit unter den Mantel nehmen, den Gott uns umhängt. Für
uns Christen ist die gegenwärtige wirtschaftliche Umbruchssituation
nicht primär Grund zum Klagen, sondern vor allem Grund zum Lieben.
Wir können die Liebe, nach der sich die Bedürftigen sehnen,
nicht einfach nur ans Diakonische Werk und an die Sozialämter delegieren.
In jedem, der durch das zerreißende soziale Netz fällt, legt
sich uns Jesus selbst vor die Füße. Die neue Brot-für-die-Welt-Aktion,
die heute beginnt, ist praktische Liebe in Aktion. Advent feiern heißt
nicht nur: „Macht hoch die Tür“ – sondern zugleich auch: „Macht
auf das Portemonaie!“. Sicher: Wir Christen werden mit unseren kleinen
Liebeszeichen nicht den ganzen Ozean von Not auf dieser Erde austrocknen.
Aber da, wo wir konkrete Not wenden können, da sind nicht Institutionen
dran. Da sind wir gefragt, wir, die wir Gottes Liebe
am eigenen Leib erfahren haben.

Heute ist der 1. Advent. Die erste Kerze brennt: Zeichen der Morgendämmerung.
Signal der Vorfreude darauf, dass Gottes Liebe die Erde verwandeln will.
Die Nacht ist vorgerückt. Darum lasst uns keine Morgenmuffel sein!
Lasst uns das Nachtgewand der Gleichgültigkeit ablegen und ins Kleid
der Liebe schlüpfen, damit erkennbar wird: Es gibt noch Menschen,
die sich auf das Kommen Christi freuen und andere mit dieser Vorfreude
anstecken.

Amen.

Landessuperintendent Dr. Burghard Krause
Göttingen
Lasup.Goettingen@evlka.de

 

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