Römer 14,17-19

Römer 14,17-19

17. Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern
Gerechtigkeit und Friede und Freude in den Heiligen Geist.

18. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und
bei den Menschen geachtet.

19. Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und
zur Erbauung untereinander.
Röm, 14, 17-19

Liebe Gemeinde, liebe Gottesdienstbesucher und – besucherinnen!

Ich las, wie ich es bei der Predigtvorbereitung oft tue, den ersten
Vers unseres Predigttextes einem vertrauten Freund vor und bat ihn um
seine Assoziationen: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“.
Er reagierte spontan: „Ich halte das für ein typisches Missverständnis
von Paulus, zu behaupten, dass es im Reich Gottes nicht um Essen und
Trinken, sondern allein um Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen
Geist geht. Warum seit ihr Christen immer so asketisch? Jesus war doch
auch kein Asket. Er wurde sogar als ‚Fresser und Säufer’
von seinen Gegnern verunglimpft, Mt 11,19. Da ist es doch unsinnig zu
behaupten, dass es bei Gott nicht die Freuden des Essens und Trinkens
gäbe. Ich stelle mir vor, dass es im Reich Gottes sowohl die Freude
des Essens und Trinkens als auch die Freude wahrer Gerechtigkeit und
göttlichen Friedens gibt!“ „Du verstehst Paulus völlig
falsch“, replizierte ich meinem Freund, der natürlich etwas
ärgerlich wurde und meinte, ich solle ihn doch gar nicht erst fragen,
wenn er doch alles falsch verstünde. „Nein“, beschwichtigte
ich, „du kannst die Situation damals in der römischen Gemeinde
ja gar nicht kennen. Es geht hier um etwas ganz anderes als um die Verweigerung
von Essen und Trinken im Reich Gottes. Stell dir vor, Paulus hätte
gesagt: ‚Man kommt in das Reich Gottes nicht durch Einhaltung
bestimmter Speisevorschriften’, dann hast du Paulus richtig verstanden.“
Mein Freund bat mich um genauere Erläuterungen. Und diese möchte
ich jetzt auch Ihnen, liebe Predigthörer und –hörerinnen
mitteilen, denn ich vermute, dass auch viele von Ihnen diesen Text im
Sinne meines Freundes missverstanden haben. – Als ob es um die
Aussage geht, dass es im Reich Gottes nicht die Freuden des Essens und
Trinkens gäbe. –
Die ersten Christen der römischen Gemeinde, ca. 20 Jahre nach Jesu
Tod und Auferstehung, stritten sich über die Einhaltung von Speisevorschriften.
Der Streit war rabiat, weil es hier wirklich um das richtige oder falsche
Verständnis der Botschaft Jesu ging. Wieso? Einige Gemeindemitglieder
enthielten sich skrupellos jeglichem Fleisch- und Alkohol- bzw. Weingenuss.
Sie argumentierten folgendermaßen: „Alles Fleisch, was wir
hier in Rom an den Marktständen kaufen, stammt aus den Überresten
geopferter Tiere in den Tempeln römischer, helenistischer oder
ägyptischer Kulte. (So war es auch. Es fanden täglich so viele
Opferungen in verschiedenen Tempeln statt, dass alles Fleisch, das zum
Verkauf in Rom angeboten wurde, aus solchen Überresten bestand.)
Mit solchen ‚Götzenopferfleisch’, so sagten sie, möchten
wir nichts zu tun haben. Ihm haftet noch der Glaube an römische,
griechische und ägyptische Götter und Geister an. Außerdem,
so meinten sie, enthalte dieses Fleisch noch das Blut des geopferten
Tieres. Gott aber hat in 3. Mose 17, 10 ff. strengstens untersagt, Blut
zu genießen, weil jegliches Blut allein Gott, dem HERRN, nicht
aber uns Menschen gehöre. Deshalb enthalten wir uns des Fleischgenusses“.
Ihre Enthaltung vom Alkohol- bzw. Weingenuss begründeten sie anders:
„Wir wollen uns von der verfallenen Lebensweise der Römer,
die oft betrunken durch die Straßen wanken, unterscheiden; deshalb
versagen wir uns den Alkoholgenuss. Wir möchten immer mit klarem
Geist und ohne Rauschmittel unseren Mitmenschen und Gott begegnen können.“
Außerdem argumentierten sie, dass auch Jesus das Fasten unterstützt
hätte, wie z. B. in der Bergpredigt (Mt 16-18). Er hätte nur
dazu aufgefordert, nicht in der Öffentlichkeit mit der Absicht
auf öffentliche Anerkennung solcher schmerzhaften Askese wegen,
zu fasten; sondern man solle im Verborgenen und in direkter Beziehung
zu Gott, dem Vater, fasten. Das wollten sie, so argumentierten diese
römische Christen, auch gerne tun. Sie wollten ohne Aufsehen in
aller Stille sich des Fleisch- und Weingenusses enthalten.
Dieser grob asketischen – oder soll ich sagen: vegetarischen –
Christen stand eine andere Gruppe in der Gemeinde gegenüber. Sie
argumentierten folgendermaßen: „Wir wissen doch ganz genau,
dass es nur einen Gott und nicht viele Götter gibt. Wir sind doch
aufgeklärt und glauben nur an den Vater Jesu Christi. Also wissen
wir doch, dass dem in Tempeln geopferten Tierfleisch gar kein Geist
von Göttern und Geistern anhängen kann, weil es solche Geister
und Götter gar nicht gibt. Ihr Fleischasketen, so beschimpften
sie die anderen Mitglieder ihrer Gemeinde, seid doch nur Kleingläubige,
wenn nicht gar Ungläubige. – Und das mit dem Blutverzehr
gilt doch nur für die altgläubigen Juden, nicht aber für
uns, die wir jetzt zum christlichen Glauben übergetreten sind.
Wir sollten doch vielmehr dankbar sein, dass uns Gott, unser Schöpfer,
Nahrung zum Leben gegeben hat. Also, so warfen sie ihren Mitbrüdern
und Mitschwestern vor, seid doch nicht so jüdisch-skrupulös
mit solchen kosher-Speisevorschriften.“
Und die Enthaltung vom Weingenuss lehnten sie mit folgenden Argumenten
ab: „Alkohol-Askese praktizieren doch auch die Pythagoräer
und auch manche helenistische Sekten. Wollt ihr euch mit denen identifizieren.
Wir nicht! Wir unterscheiden uns im Glauben, nicht aber durch Speisevorschriften
von diesen Andersgläubigen.“
Der Streit eskalierte in Rom ähnlich wie in der korinthischen Gemeinde.
Der Gemeinde drohte eine Spaltung. Das wurde noch dadurch forciert,
dass die asketische Gruppe behauptete, man könne das Reich Gottes
nur erreichen, wenn man solche Speisevorschriften wie Fleisch- und Wein-Enthaltung
auch wirklich praktiziere. Dazu kam noch deren Behauptung, Röm.
14, 5, dass man auch den Sabbat und den Sonntag als arbeitsfreien Ruhetag
einhalten müsse, um gottwohlgefällig zu leben. Das alles bestritten
die ‚Genießer’.

Paulus kannte diesen Streit in Rom, der demjenigen in Korinth (vgl.
1 Kor 8 und 10) ähnelte. Wie in seinem Brief an die Korinther nannte
er auch hier im Römerbrief die gesetzlichen Asketen „Schwache
im Glauben“ und die anderen „Starke im Glauben“. Und
er nimmt eben klipp und klar für letztere Partei, indem er sagt:
„Das Reich Gottes besteht nicht aus Speisevorschriften.“
Denn er ist ja der Überzeugung, dass „Christus das Ende des
Gesetztes“ sei. (Röm 10, 4). Nichts an der Schöpfung
sei unrein an sich selbst“ (Röm 14,4) Wir Menschen bräuchten
nicht Bedingungen zu erfüllen, um Gottes Liebe, Frieden und Gerechtigkeit
bzw. sein Reich schon mitten im Leben zu erreichen. Gott habe uns das
alles durch seinen Sohn Jesus Christus geschenkt.
Soweit steht Paulus also den Starken zur Seite. Aber er geht in anderer
Hinsicht mit ihnen scharf ins Gericht: Wir wissen nämlich, dass
die „Starken“ in Korinth die „Schwachen“ demonstrativ
zu sich nach Hause zum Essen eingeladen hatten, um ihnen Fleisch zum
Verzehr zu servieren. Und sie hatten sich offensichtlich lustig gemacht,
wenn diese, obwohl sie bettelarm waren und sich fast nichts leisten
konnten, diesen Genuss aus religiösen Skrupeln heraus ablehnten.
So mag es vielleicht auch in Rom gewesen sein. Und deshalb redet Paulus,
den „Starken“ in Rom ins Gewissen: „Bringe nicht durch
deine Speisegewohnheit den ins Verderben, für den Christus gestorben
ist. Es soll doch nicht verlästert werden, was ihr Gutes habt.“
(Röm 14, 15f) Er mahnt sie, sich nicht arrogant und stolz zu verhalten
mit ihrem aufgeklärten Glauben, sondern die anderen Gemeindeglieder
in ihrer Skrupelösität genauso zu achten, wie sich selbst,
– denn Christus sei sowohl für diese als auch für sie gestorben
Intensiv fordert er sie auf, wie unser Predigttext V 19 sagt: „Lasst
uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung (in der
Gemeinde) untereinander.“ Entscheidend, so fügt er noch hinzu,
sei nicht, was man isst bzw. was man nicht isst und trinkt, sondern
dass man ein gemeinsames Tischgebet (Röm 14,6) spricht. Solches
Dankgebet vereine die Gegensätze in der Gemeinde.
Anstelle des rabiaten Streiten über Speisevorschriften mutet Paulus
beiden Gruppen, denen „Starken“ und den „Schwachen“
nun etwas Ungeheuerliches zu: Sie sollten „geistlich leben“.
Wie begründet er das? Er behauptet, dass das Reich Gottes „Gerechtigkeit,
Friede und Freude im Heiligen Geist“ sei. Das war und ist noch
immer eine ungeheuerliche Zumutung! Es ist doch viel leichter, irgendwelche
Speisevorschriften, Arbeitsvorschriften, Gesundheitsvorschriften usw.
zu befolgen, als mit dem Gefühl eines ‚geistlichen Friedens’
und einer ‚geistlichen Gerechtigkeit’ im Herzen und im Gewissen
zu leben. Was heißt denn ‚geistlicher Friede’? Ich
kann das nur beschreiben als inneren Gewissensfrieden, inneres Getröstetsein,
in Dankbarkeit und Übereinstimmung mit mir selbst, mit meinen Mitmenschen,
mit der Natur und mit Gott zu leben. ‚Geistlicher Friede’
ist höher als alle Vernunft, wie Paulus immer wieder sagt. Er bedeutet
die Einstimmung und Zustimmung, das zu akzeptieren, was ich absolut
nicht ändern kann und das zu ändern, was ich ändern kann.
Und was bedeutet ‚geistliche Gerechtigkeit’? Sie bedeutet,
dass ich meinen Mitmenschen nicht allein nach seinen Leistungen, Sympathien
und Fähigkeiten bemesse, sondern ihn als Mitgeschöpf, das
Gottes und meine Liebe verdient, erachte. Ich halte diese Zumutung,
geistlich und nicht gesetzlich zu leben, liebe Christen in unserer Gemeinde,
für die größte Zumutung, die Paulus uns nahe legt.

Diese Erklärungen gab ich meinem Freund, um sein Missverständnis
aufzulösen. Er wurde sehr nachdenklich. Er erinnerte sich an den
Martin Luther-Film, den wir kürzlich zusammen gesehen hatten. Er
meinte: „Ich muss dir sagen, dass für mich in dem Luther-Film
fast die eindrücklichste Szene gewesen ist, als der junge Martin
sich in seiner Klosterzelle auf dem Fußboden schreiend wälzt
und gequält fragt: ‚Gott, wie kann ich deine Strafe verhindern,
wie kann ich im Endgericht vor dir bestehen? Ich habe alle deine Gebote
gehalten, den Sonntag geheiligt und oft gefastet, aber ich fühle
mich nicht als ein guter, sondern als ein sündiger Mensch.’
Jetzt kann ich diesen mir so eindrücklichen Gewissenskamp besser
verstehen. Wahrscheinlich hatte Luther Angst vor Gottes Gericht. Und
er tat zur Besänftigung einer Angst das, was alle im Spätmittelalter
taten, nämlich Wallfahrten, Weihwasser schlürfen, von Kirche
zu Kirche kniend rutschen, unendlich oft die Madonna-Figur küssen
und eben fasten und Speisevorschriften einhalten. Und der junge Martin
hatte den Eindruck, dass das alles nichts nützt. Hätte er
doch bloß schon damals unseren Vers von Paulus gelesen, dass die
Einhaltung von Speisevorschriften nicht zu Gott und zu Gottes Reich
führen.“ Ich stimmte ihm zu und erinnerte mich, wie eindrucksvoll
auch für mich diese Gewissensqual-Szene des jungen Martin Luther
im Film gewesen ist.
Wir kamen tiefer ins Gespräch. Leben wir heute nicht auch oft nach
Speisevorschriften, um unsere Gesundheit zu bewahren? Ist irgendetwas
dagegen einzuwenden? Meiden wir nicht vernünftigerweise manche
Speisen und Getränke, um Gesundheitsschädigungen zu vermeiden?
Kürzlich hat doch eine Redakteurin bewusst drei Monate sich nur
bei Mc Donald ernährt – und schwemmte daraufhin auf, wie
ein Hefekuchen mit allen möglichen Organschädigungen. Was
ist also gegen vernünftige Speisevorschriften einzuwenden? Ist
Fleisch- und Weinenthaltung nicht sehr vernünftig? Ist die Vermeidung
von Schweinefleisch auf muslimische und auf jüdischer Seite im
Hinblick auf die Gesundheit nicht sehr vernünftig? Sollten wir
nicht vielmehr beklagen, dass viel zu wenig Bürger und Bürgrinnen
einen vernünftigen Speiseplan machen und viel zu häufig Fast-Food
und Gen-Food genießen? Mit bewussterer Ernährung könnten
viele harmonischer, zufriedener und glücklicher leben. Was also
wenden wir gegen vernünftige Speisevorschriften ein?
Der Unterschied ist, ob man aus säkularen oder aus religiösen
Gründen Speisevorschriften befolgt. Die „Schwachen“
in Rom und Korinth und auch der junge Martin Luther haben sie aus religiöse
Gründen eingehalten. Sie wollten sich damit bei Gott wohlgefällig
machen. Bewusst Gesundheitspraktiker heute haben in der Regel überhaupt
keine religiösen Gedanken dabei. Deshalb ist natürlich jedes
vernünftige Essen und Trinken nur zu begrüßen! Problematisch
wird es aber, wenn die Befolgung solcher Speisevorschriften und der
Wert Gesundheit zum einzigen oder zumindest zum Hauptziel des Lebens
wird. Wenn man zum ‚Gesundheitsapostel’ changiert und die
Einhaltung des Speiseplans Absolutheits- und Unbedingtheits-Charakter
erhält. Paul Tillich meint, dass in solchen Situationen das Streben
nach Gesundheit einen dämonischen Charakter einnehmen könnte.
Wenn die Befolgung von Speisevorschriften wichtiger wird als das Eintreten
für Gerechtigkeit, Frieden und Nächstenliebe, weil man nur
noch sich selbst und seine eigene Leiblichkeit sieht, dann könnte
sich dieses an sich vernünftige Bemühen in sein Gegenteil
verkehren und sehr unvernünftig werden.
Deshalb kommt es auf die Begründung an, mit welcher wir Speisen
und Getränke zu uns nehmen und unseren Nächsten empfehlen.
Menschliche Gesundheitsgründe und auch rituelle Formen des gemeinsamen
Essens und Trinkens sind für menschliches Leben und Zusammenleben
unbedingt notwendig. Aber sie dürfen nicht hypostasiert werden.
Dann werden sie zu Götzen.

Aber jetzt muss ich mich wieder an die Mahnung von Paulus im letzten
Vers unseres Predigttextes erinnern lassen: „Lasst uns dem nachstreben,
was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.“ Wenn ich
auch der Meinung bin, dass manche mit ihrem Gesundheitsprogramm zu ‚Gesundheitsaposteln’
werden und ihre Ernährungsideologie verabsolutieren, so habe ich
überhaupt kein Recht, sie deswegen zu verurteilen oder mich selbst
deshalb demonstrativ vor ihnen gänzlich anders zu ernähren.
Das Gleiche gilt für andere, aber ähnliche Auseinandersetzung
in Gemeinden heute: Die einen lehnen einen homosexuell ausgerichteten
Pfarrer und erst recht die Möglich einer Eheschließung für
homosexuelle aus geradezu religiösen Gründen entschieden ab,
während andere das akzeptieren. Oder es herrscht zur Zeit ein Streit
in manchen Gemeinden, ob kirchliche Rituale nach einer Ehescheidung
angebracht seien oder nicht. Dieser Streit ist wichtig, wenn es um säkulare
und rituelle Fragen geht, aber er ist nicht angebracht, wenn er religiös
überhöht wird.
In allen Fragen des Streites fordert Paulus aber eindeutig auf, gemeinsam
zu beten und dann aus dem Geist einer ‚geistlichen Gerechtigkeit’
und eines ‚geistlichen Friedens’ miteinander zu streiten
und zu leben. Wer Gottes Frieden und Gerechtigkeit in sich spürt,
der kann nicht andere verurteilen und sich selbst allein rechtgläubig
verstehen. Er kann sich selbst zurücknehmen und ggf. Unrecht leiden.
Gottes Geist befähigt dich, Frieden zu stiften und Gerechtigkeit
auszubreiten, – säkular und geistlich.

Dieser Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre
dein Herz und deine Sinne in Christus Jesus, Amen

Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück
rmokrosc@uos.de

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