Aufgerichtet

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Predigt zu Jesaja 40, 26-31 | verfasst von Suse Günther |

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen. AMEN

Jesaja 40, 26-31

Hebt Eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies alles geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen, seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst Du denn, Israel, und Du Jakob sagst: „mein Weg ist Gott verborgen und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber? Weißt Du nicht, hast Du es nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wir nicht müde und matt. Sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.

Männer werden müde und matt, Jünglinge straucheln und fallen. Aber die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

 

Gott, gib uns ein Herz für Dein Wort und nun ein Wort für unser Herz. AMEN

 

Liebe Gemeinde!

Das meist gelesene Buch auf dieser Welt ist immer noch unsere Bibel, auch wenn viele die Bibeltexte nicht mehr so parat haben, wie das noch vor ein paar Jahren der Fall war.

Die Worte unseres heutigen Predigttextes sind 2400 Jahre alt und sind, wie alle biblischen Überlieferungen von Menschen in ihrer ganz besonderen Situation geschrieben. Worte, die in dieser besonderen Situation die Erfahrungen wiedergeben, die Menschen mit Gott gemacht haben. Dieses ganz spezielle Bibelwort, das mir gerade zu diesem Sonntag in der Corona Zeit so sehr zu passen scheint, wurde nicht aktuell ausgewählt, sondern schon vor ein paar Jahren.

Das für mich Bewegende an diesen Bibelworten ist, dass sie, obwohl in dieser ganz besonderen Situation und vor so langer Zeit geschrieben, mich in meiner gegenwärtigen Welt und Sichtweise immer wieder ganz persönlich ansprechen.

Ich kenne mich schon allein von Berufs wegen in der Bibel einigermaßen aus. Und mache doch immer wieder die Erfahrung, dass die mir so bekannten Texte mich immer wieder neu und anders berühren, wenn ich mich in meinem Leben in einer neuen und anderen Situation befinde. Ich nehme es für mich als Zeichen, dass Gott mich durch diese menschlichen und bekannten Worte hindurch immer wieder ganz neu trifft, je nach dem, wo in meinem Leben ich mich gerade befinde. Ich mache diese Erfahrung immer wieder, dass Gott mich durch Menschen anspricht. In der Gegenwart. Aber eben auch durch diese alten, überlieferten Worte hindurch.

Ursprünglich geschrieben wurde unser heutiger Predigttext zur Zeit des zweiten Jesaja. Er wendet sich an die Israeliten, die nach dem verlorenen Krieg gegen die Babylonier ins Exil nach Babylon geführt wurden. Eine scheinbar aussichtslose Lage, in der keinerlei Grund zur Hoffnung besteht.

Menschen, die alles verloren haben, die sich kraftlos hängen lassen müssen,  die den Kopf zur Erde neigen, wohin auch sonst.

Diesen Menschen ruft der Prophet zu:

Hebt Eure Augen in die Höhe!

Versuchen Sie, diese Bewegung einmal für sich nachzuvollziehen: Den Kopf heben!

Merken Sie, dass sich dadurch Ihre ganze Körperhaltung verändert? Sie werden aufrechter, der Oberkörper wird weiter, sie bekommen mehr Luft.

Jeder rät einem derzeit, wo wir alle berechtigte Angst vor einer tödlichen Lungenentzündung im Zusammenhang mit Corona haben müssen, genau dazu: Alles zu tun, was die Atmung groß und weit werden lässt. Aufrecht sich an der frischen Luft bewegen ist dazu nicht nur ein wichtiger körperlicher Beitrag. Sondern eben auch ein seelischer: Wenn wir uns aufrichten, wenn unser Blick wieder weit wird, wenn wir regelmäßig atmen können, dann schwindet die Panik.

Hebt Eure Augen in die Höhe. Es ist eben gar nicht so, wie viele immer behaupten, dass unsere alte Bibel nur ein historisches Dokument voller frommer Worte sei.

Nein, diese alten Worte haben eine Lebendigkeit und Kraft, die uns immer wieder neu in Bewegung bringen kann.

Und: diese alten Worten bringen Körper und Seele in  Verbindung. Und heilen auf diese Weise in einer Form, die heute, wo wir den Zusammenhang von Körper und Seele immer besser verstehen, wieder ganz neu in den Blick gerät.

Die Juden hatten übrigens gar kein Wort für „Seele“. Sie haben von „Leben“ gesprochen, von „Lebendigkeit“

Und damit zum Ausdruck gebracht: Es gehört alles zusammen: Wenn wir unsere Augen heben, dann hat das Auswirkungen auf unser ganzes Leben. Es verändert die Sichtweise auf die Welt, auf uns selbst, auf unsere Mitmenschen und auf Gott, der unser Leben umgibt wie die Luft zum Atmen.

Können wir diese Worte in unserer Zeit für uns persönlich hören? Können wir sie hören, wir, die wir uns auch in einem kleinen Exil befinden seit ein paar Wochen? Abgeschnitten von vielem, das bisher unser Leben ausmachte? Können wir diese Worte hören, wenn wir Existenzängste haben und viele nicht wissen, wie es finanziell weitergehen soll?

Können wir diese Worte hören, wenn wir die Schreckensbilder aus aller Welt sehen? Die Menschen, die in ihrem Favelas oder Flüchtlingslagern oder Slums der Krankheit hilflos ausgeliefert sind? Wenn wir die Massengräber in New York sehen und die Todeszahlen in Russland?

Ich weiß nicht, ob die Israeliten sie damals für sich annehmen konnten oder als billigen Trost abgetan haben.

Was ich weiß, denn auch davon gibt unsere Bibel Zeugnis, ist, dass für die Israeliten wirklich eine Zeit „danach“ kam. Eine Rückkehr in die Heimat, ein neuer Anfang. Ein Leben, das so ganz anders war als das vor dem Exil. Viel kleiner und bescheidener, viel angewiesener.

Ich möchte die Trostworte des zweiten Jesaja auch für mich in meinen Tagen noch einmal ganz neu hören und glauben dürfen:

„Gott wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich, er gibt dem Müden Kraft und Stärke dem Unvermögenden“

Ich denke an die, die Unglaubliches geleistet haben in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten.

Ich denke an die vielen Beschäftigten in den Krankenhäusern und Heimen. Die, die uns täglich in hoffentlich vollständiger Schutzausrüstung über den Bildschirm flimmern. An die, die aus ihrer Rente heraus noch einmal in den Einsatz zurückgekehrt sind. Die Doppelschichten leisten und mit ihren Ängsten irgendwie fertig werden müssen. Ich denke an Familienangehörige, die sich nun wieder rund um die Uhr um pflegebedürftige Angehörige kümmern, weil im Heim Aufnahmestopp ist.

Ich denke an die vielen Menschen im Einzelhandel, die täglich in Gefahr sind und doch alles tun, um unsere Versorgung zu sichern. Ich denke an LKW Fahrer, die unsere wichtigen Güter hin und her transportieren, ohne die Infrastruktur von Raststätten. Ich hoffe, dass sie Kraft bekommen. „

Ich selbst erlebe das alles nur am Rande. Als Krankenhausseelsorgerin gehe ich derzeit nicht mehr von Zimmer zu Zimmer. Allerdings werde ich in Notfällen gerufen. Und die gibt es ja gerade zur Zeit, wo Angehörige ihre Familienmitglieder nicht mehr besuchen dürfen, wo Sterbende nicht mehr begleitet werden dürfen, wo alte, alleinstehende Menschen ohne Rehabilitation in ein häusliches Umfeld entlassen werden müssen, in dem sie eigentlich gar nicht zurecht kommen können.

Ich habe in diesen Situationen immer auch wieder mit der Angst zu kämpfen, die uns alle derzeit umtreibt. Hoffentlich verhalte ich mich richtig, bin ich ausreichend geschützt, komme ich niemandem zu nahe. Mir persönlich helfen die biblischen Worte: Hebe Deine Augen auf. Gott ruft Dich mit Namen, Du bist vor ihm nicht vergessen. Gott wird auch in dieser Situation nicht müde und matt. Und er gibt seinen Menschen Kraft.

Mir helfen diese Worte. Sie richten mich auf, lassen mich aufatmen

Sie erinnern mich aber gleichzeitig auch daran, dass wir diese Hoffnungsbotschaft füreinander lebendig werden lassen können. Füreinander weiterleben, was da seit 2400 Jahren in der Bibel zu lesen steht.

Füreinander vorsichtig miteinander umgehen. Füreinander einstehen, uns gegenseitig helfen. Rücksicht nehmen. Geld spenden an Hilfswerke, die jetzt hoffentlich auch die Ärmsten erreichen. Gutscheine per Internet von denen kaufen, die derzeit ihre Geschäfte geschlossen halten müssen, an dem heimischen Nähmaschine provisorische Masken nähen.

Telefonieren, Briefe schreiben und Mails verschicken und auf diese Weise von dem weitergeben, was uns selbst bewegt und Hoffnung gibt.

„Ja, ich möchte diese Worte für mich hören und weitersagen, dass sie mir persönlich gerade in dieser Zeit Kraft geben:

Gott gibt den Müden Kraft, der macht die Schwachen stark.

Die auf Gott trauen, bekommen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ Klar, niemand von uns kann unendlich laufen und arbeiten. Und so kann das „Weitergeben von Gottes Botschaft“ in unseren Tagen eben genau dies bedeuten, dass wir uns gegenseitig entlasten. Dass wir für einen anderen laufen, damit der oder die einmal wieder ganz neu den Blick heben kann.

Mein alter, fast 80 jähriger Onkel, Arzt im Ruhestand, hat sich in diesen Tagen ganz neu in die unzureichende Schutzkleidung geworfen und übt seinen Beruf wieder aus, um die zu entlasten, die einfach einmal eine Pause brauchen. Auch, um die zu ersetzen, die krank geworden sind.

Denn „auch junge Menschen werden müde und matt“, auch junge Menschen in den medizinischen Berufen sind gestorben. Sie werden gebraucht, die Alten, die nun einspringen. Mit ihrem Können, ihrer Menschlichkeit, ihrem Gottvertrauen und vielleicht auch ihrer Haltung: Ich habe ja nun mein Leben gehabt. Ich habe Grund zur Dankbarkeit. Ich gebe etwas von dem zurück, was mir selbst zuteil wurde

Die alten biblischen Worte bekommen ganz neue Aktualität in diesen Tagen. Manch einer und eine von uns hat auch gerade in dieser Krise begonnen, sich ganz neu mit der biblischen Botschaft auseinanderzusetzen. Und sei es nur mit Fragen „Wo bist Du da in allem eigentlich Gott?“

oder „wo ist mein Platz in dem allen?“

oder „kann ich Dir in dieser Situation vertrauen“

oder: „was willst Du mir jetzt sagen?“

oder „wie schaffe ich es überhaupt, mich in der Angst aufzurichten?“

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Gott auf Fragen antwortet. Durch kleine Botschaften in meinem Alltag. Durch Menschen. Durch bewegende Erlebnisse.

Die Antwort kommt oft anders, als ich es erwartet habe. Sie kommt auch manchmal später, als ich es erhofft habe.

Das mag auch Jesaja so erlebt haben, wenn er schreibt: Die auf Gott warten, bekommen neue Kraft. Warten: Es gehört Geduld dazu. Geduld, die viele von uns in diesen Wochen haben mussten und immer noch haben müssen.

Ich hoffe, dass wir alle diese Erfahrung machen können: Wir werden wieder aufatmen, Kraft bekommen und weiterlaufen können.

und ich wünsche mir, dass wir das nicht vergessen, was wir in dieser Passionszeit 2020 erlebt haben, dass unser persönliches Exil und hoffentlich auch unsere ganz persönliche Auferstehungserfahrung unser Leben in ein ganz neues Licht stellen können.

Und dass wir aus diesem notwendigen derzeitigen Exil wieder in ein ganz neues Miteinander finden werden, in dem wir uns daran erinnern, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind und miteinander und füreinander leben können. Gott helfe uns dabei, uns allen. Er lasse uns neu geboren werden AMEN

de_DEDeutsch