Besonnen unter der Maske

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Besonnen unter der Maske

Predigt über 2Tim 1,7-11  | verfasst von Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den heutigen 16.Sonntag nach Trinitatis steht 2Tim 1,7-11:

„Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“

Liebe Schwestern und Brüder,

schon alles gesagt über Corona und Glaube? Die Mahnung zur Besonnenheit aus dem Predigttext setzt einen neuen Ton. Die letzten Monate haben dem Sturmtief und den Hitzewellen, dem Abnehmen und den Diäten, sowie den Toren der Nationalmannschaft ein weiteres Gesprächsthema für Smalltalk hinzugefügt: Viren, Epidemien, Abstandhalten, Hygienemaßnahmen und vor allem Masken, Masken, Masken.

Masken, die den Atem nehmen und die Brille beschlagen lassen. Masken, die das Gesicht verdecken. Masken, die die Passanten vergessen wie den Hausschlüssel oder die Handtasche.  Die meisten Nachrichtenleser können nun Auskunft geben, was unter einer Reproduktionszahl zu verstehen ist. Sie tauschen sich mit Gesprächspartnern darüber aus, in letzter Zeit zunehmend in einem gereizteren, verdrosseneren Ton. Verdrossenheit führt leicht zu Verschwörungstheorien. Deren Anhänger gewinnen an Demonstrationsboden und basteln sich immer unwahrscheinlichere Szenarios zusammen, mit denen sie den sicheren Grund vernünftigen Handelns aufschwemmen. Die Frage, wo das Virus herkommt und wer welche Gründe hatte, es in die Welt zu setzen, beflügelt die Erfindungskraft und erzeugt mehr politische Hitze als die kühle epidemiologische und medizinische Vernunft, der viele Menschen nicht mehr trauen, weil Epidemiologen und Mediziner unter sich heillos zerstritten sind.

Auch wer die Medizin ernst nimmt, Maske trägt und Abstand hält, der merkt nach einem halben Jahr dennoch so etwas wie eine untergründige Verstörung, die sich in unterschiedliche Richtungen ausprägt. Die alte Lockerheit und Unbeschwertheit sind verloren gegangen. Viele Menschen haben Angst, andere anzustecken, insbesondere gefährdete Senioren aus der eigenen Familie oder im Pflegeheim. Aber das Abstandhalten zerstört auch den Zusammenhalt, das Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft in Familien, Cliquen und Freundeskreisen. Viele Menschen fühlen sich einsam, obwohl sie Beziehungen pflegen, aber eben nur virtuell über Skype oder Zoom. Homeoffice kann eine sehr schöne Sache sein, es fehlt aber das Gespräch mit den Kollegen. Homeoffice kann einsam machen. Anderen macht es Mühe, durch eine Fußgängerzone oder einen Park zu gehen und niemandem mehr ins Gesicht schauen zu können, weil dieses von Masken verdeckt ist. Die Fußgänger, die durch einen Park gehen, kennen ja die meisten Menschen nicht, die an ihnen  vorübergehen. Und dennoch schafft die Anwesenheit von unbekannten, anonymen Mit-Menschen ein gewisses Gefühl der Vertrautheit, das vielen erst aufgefallen ist, als es durch Shutdown und Abstandsregeln verlorengegangen war. Manche Beobachter glauben, daß die Menschen Gewohnheitstiere sind und daß sich die früheren sozialen Gepflogenheiten nach dem Ende der Epidemie schnell wieder einstellen werden. Bekannte werden sich die Hände schütteln zur Begrüßung, junge Leute werden sich in überfüllten Bars bis zur Theke durchdrängen, um einen Cocktail zu bestellen. Fußballfans werden den Kantersieg der eigenen Mannschaft mit Fangesängen, viel Bier und gemeinsamem Jubel feiern. Andere Menschen vermissen Konzerte, Kino, Mannschaftssport und sehnen sich nach dem Beginn der neuen Spielzeit.

Mediziner, die die Ausbreitung des Virus genau beobachten, gießen in diesen Tagen Wasser in den Wein dieser Sehnsucht. Das Virus bleibt unberechenbar und verändert sich ständig. Bis ein Impfstoff entwickelt ist, wird es noch Monate dauern. Ein günstiges Szenario würde vorsehen, daß ab Mitte nächsten Jahres ein passender Impfstoff zur Verfügung steht. Aber selbst dann würde es noch mehrere Jahre dauern, bis der größere Teil der deutschen Bevölkerung geimpft und so die berühmt gewordene Herdenimmunität erreicht wäre. Bis alle Vorsichtsmaßnahmen wieder aufgehoben werden können, würde es noch mindestens zwei bis drei Jahre dauern. Und das gilt nur in diesem günstigen Szenario, also für den Fall, daß ein Impfstoff schnell gefunden und dann in großen Mengen produziert werden kann.

Wer sich also, was sehr vernünftig ist, auf medizinisches Fachwissen und kluges politisches Kalkül verläßt, der muß mit einer längeren Dauer der Schutzmaßnahmen rechnen. Aber alle die vielen, die vernünftig sein wollen, aber gleichzeitig von Anfällen von Überdruß, Einsamkeit geplagt werden, fragen sich, wie sie die Geduld aufbringen sollen, die unangenehmen Schutzmaßnahmen noch jahrelang durchzuhalten.

Gemeinden, Theologen und Christenmenschen ist vorgeworfen worden, sie hätten in dieser Corona-Lage nichts ‚Systemrelevantes‘ zu den Schwierigkeiten beizutragen. Deswegen könne man auch auf die Hilfe von Seelsorge und Theologie verzichten und gleich damit aufhören, Kirchensteuer zu zahlen. Ich finde es schlimm, wenn solche Argumente dann ausgerechnet von Theologen zu hören sind, die mit solchen Thesen auch ihre eigene Arbeit für unbedeutend und wirkungslos erklären.

Denn solcher Resignation steht der Predigttext aus dem 1.Timotheusbrief entgegen. Ein Glaube, der Furcht und Hysterie schafft, verkehrt sich in sein Gegenteil. Ja, man kann sogar sagen: Dort, wo aus angeblichem Glauben Furcht entsteht, da hat sich der Glaube des Evangeliums längst verflüchtigt. Wer Gott vertraut, der hat vor Welt und Wirklichkeit und dem eigenen Leben keine Angst. Ganz im Gegenteil. Glaube ist dort, wo Furcht aufgehoben wird. Glaube stiftet Hoffnung, Geduld und die Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl der Welt einzusetzen. Vom unbekannten Autor des 2.Timotheusbriefes schallt über die Distanz von zweitausend Jahren eine unmißverständliche Botschaft in die Gegenwart: Gott schenkt Glauben – und gleichzeitig Kraft, Liebe und Besonnenheit.

Mir gefällt der Begriff der Besonnenheit noch mehr als die beiden anderen. Besonnenheit ist das geeignete Mittel gegen Panikmache, Hysterie und Übertreibung; sie unterbricht den schnellen Mechanismus von Reiz und Reaktion, in den viele Menschen ganz automatisch hineinschalten, wenn sie von einem Mißstand hören, der ihnen nicht gefällt. Viele Menschen, die sich an den Masken stören, springen sofort auf Emotion und Empörung um, wenn sie darüber reden. Dabei wiegt der Schutz, den Masken bieten, bei weitem die geringen Umstände und Nachteile auf. Kraft hilft gegen Langeweile, Lethargie und das Nichtstun, zu dem die Virusepidemie viele Menschen verurteilt hat. Liebe hilft gegen die Isolation und die Einsamkeit, in die sich viele Menschen zurückziehen mußten, um in Quarantäne abzuwarten, bis die Ansteckungsgefahr abgeklungen war. Besonnenheit hilft gegen Kurzschlußreaktionen, Jähzorn und Panikmache.

Besonnenheit ermuntert zum Nachdenken und verschmilzt so mit dem Glauben. Besonnenheit ist eine vernünftige Kraft, gerichtet gegen alle Kurzschlußreaktionen. Wer besonnen ist, bedenkt die Folgen seines Redens und Handelns.  Besonnenheit hilft auch gegen einen naiven Enthusiasmus, der sich gleichsam fundamentalistisch über die manchmal schlimme Wirklichkeit hinwegsetzt.  Glauben braucht Besonnenheit, weil er mehr ist als ein oberflächliches fröhliches Gefühl, das sich am Sonntag im Gottesdienst nach einer großen Dosis Gebet und Gesang einstellt. Ein Glaube, der nur gefühlsduselig bleibt, verflüchtigt sich sehr schnell wieder, weil er der Wirklichkeit nicht standhält. Ein Glaube, zu dem wie die Kehrseite einer Medaille die Besonnenheit gehört, bereitet sehr viel besser auf den Alltag und seine Gewohnheiten vor. Gott hat die Menschen nicht nur geschaffen, damit sie sich in religiösen Gefühlen zu verlieren, sondern er hat ihnen Vernunft, Einsicht und Weisheit gegeben, damit sie im Handeln, Fühlen und Denken Gottes Barmherzigkeit die Ehre geben können. Und in einer Wirklichkeit, der wir nicht mit sprunghaften Einzelaktionen, sondern mit Besonnenheit begegnen, entdecken wir eher die Spuren Gottes oder die Spuren seines Reiches. Ein besonnener Glaube vereint die positiven Seiten sowohl des Nachdenkens als auch der Gottessuche. Er sorgt dafür, daß Menschen nicht jedem klerikalen oder frömmelnden Marketinggag und auch nicht jeder durchsichtigen politischen Stimmungsmache hinterherrennen.

Glauben und Besonnenheit sind keine Pillen, die an jedem Sonntag in hoher Dosis unter Aufsicht des Pfarrers einzunehmen wären. Besser sind sie als Geschenke zu verstehen, die die Glaubenden in einen Prozeß des Wachstums hineinnehmen. Dieser geistliche Wachstumsprozeß hilft dazu, die Unbilden des Lebens zu bestehen, sich mit ihnen denkend, handelnd und verändernd auseinandersetzen. Es fängt beim Maskentragen an, es hört beim Vermeiden von Plastik nicht auf.

Der zweite Teil des Predigttextes begründet in großen Worten, woher solcher Glaube und solche Besonnenheit kommen. Sie gründen, so sagt es der Verfasser des Briefes, in der Gnade Jesu Christi, die Gott vor aller Zeit bestimmt hat und nun den Menschen als gute Nachricht Gottes offenbart wurde. Im Original des 2.Timotheusbriefes wirken diese Worte noch gewichtiger und tiefgründiger. In diesen wenigen großartigen Sätzen berühren sich Gegenwart und Ewigkeit, noch heute. Wer sie als Leser einfach auf dem Bildschirm eines Smartphones oder eines Computers liest, der kann ihre Bedeutung nicht richtig ermessen. Die Worte passen nicht in eine Abstellkammer, und sie eignen sich nicht zur flüchtigen Lektüre beim Warten auf die verspätete Straßenbahn. Ich stelle mir vor, diese wunderbaren, großen Worte gehören in eine lichtdurchflutete Kathedrale, in der Architektur und Liturgie auf einander abgestimmt sind. Sie gehören in einen riesigen hohen Raum, der in langen Jahrhunderten der Bauzeit und der Renovierung zu einem Symbol dafür geworden ist, daß das Licht Gottes die Wirklichkeit dieser Welt berührt und aus ihr nicht wegzudenken ist.

Auf diese Weise kommt es zu einer gegenseitigen Durchdringung von Worten und Räumen. Der barmherzige Gott trifft gute, richtige Entscheidungen über das Leben von Menschen. Und man kann durchaus von der Besonnenheit Gottes sprechen: Gott handelt so besonnen und klug, wie er es von Menschen des Glaubens erwartet. Gott trifft seine Entscheidungen nicht übereilt und unüberlegt, er hat schon – von Ewigkeit her – weit vor der Gegenwart entschieden, daß der Tod seine Macht über die Menschen verlieren wird. Das erspart niemandem das Sterben, aber es gewinnt für jeden die Ewigkeit.

Liebe Schwestern und Brüder, ich will nun diese zweite Passage des Predigttextes nicht Wort für Wort auslegen. Die Auslegung entspräche auch dem, was Sie an Weihnachten, in der Passionszeit und an Ostern als frohe Botschaft von Jesus Christus hören. Die Worte klingen wie ein Echo aus einer vergangenen Zeit, welche die Gemeinschaft, die wir als Christenmenschen pflegen, stiftet, bekräftigt und weiterführt. Mut und Hoffnung, Glaube und Besonnenheit gehören zusammen. Sie sollen ausstrahlen in die Welt wie eine Kathedrale als symbolischer Raum Gottes in die Gegenwart eines Marktplatzes und eines Stadtviertels hineinragt. Die Fäden der Welt mögen sich im Moment nur unvollkommen zu einem Stoff verknoten, der Faden des Glaubens bleibt Bestandteil dieses Gewebes.

Und der Friede Gottes, welcher vor keiner Maske haltmacht, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.

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