Gute Nachricht für Stubenhocker

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Gute Nachricht für Stubenhocker

Predigt über Hebr 13,12-14, verfasst von PD Dr. Wolfgang Vögele |

 

Friedensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Judika steht Hebr 13,12-14:

„Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

1.

Liebe Schwestern und Brüder,

hat da jemand in die Armbeuge gehustet? Glänzen blaue Augen plötzlich fiebrig? Fallen gerötete Wangen auf? Der Junge im Anorak, zwei Meter weiter, atmet er schwer? Ganz Europa hat sich auf Sicherheitsabstand ins Wohnzimmer zurückgezogen. Mit Distanzierung und Rückzug soll die Ansteckungsgefahr eingedämmt werden. Auf der gemütlichen Couch, die Beine zum Abstandhalten ausgestreckt, mögen die disziplinierten Home Office Worker vor dem Virus sicher sein, aber in aller Bequemlichkeit drohen Angst und Panik, die sich schnell als unerbetene Nebenfolge von Isolation einstellen. Die Gesellschaft hat sich kollektiv in Quarantäne begeben, stets mit zwei Meter Abstand. Wir leben gemeinsam miteinander und auseinander. Gemeinsinn und Solidarität pflegen Bürgerinnen und Bürger dadurch, daß sie sich abschotten.

Wir leben getrennt gemeinsam gleichförmig: Home Office, Abstand halten, Brennpunkte im Fernsehen, Briefing durch das Robert Koch Institut, einmal täglich zum Supermarkt. Jeder ist auf sein eigenes Leben zurückgeworfen, innerhalb der Grenzen der eigenen vier Wände, die täglich etwas enger zu werden scheinen. Wir leiden gemeinsam einsam, das ist der Reim, auf den solche  Epidemiezeiten die Virusträger einstimmen. Selbst wer nicht gefährdet ist oder auf einen milden Verlauf der Infektion hoffen kann, der meidet soziale Kontakte, damit eintritt, was die Statistiker berechnet haben: Die Infektionskurve soll abflachen. Wenn nicht alle mitmachen, drohen schärfere Maßnahmen: vollständige Ausgangssperren, Schließungen und Zwang. Die schrecklichen Bilder von den Sargmassen vor italienischen Krematorien haben alle Betrachter erschüttert. Die offene Gesellschaft hat trotzdem Mühe, so einfach auf Abschottung, Selbstversorgung und Kontaktsperre umzustellen. Die bisher ergriffenen Maßnahmen haben eine Bugwelle von Leichtfertigkeit und Unbekümmertheit geschaffen. Der Ausnahmezustand braucht Zeit, bis sich alle daran gewöhnt haben, auch wenn die Menschen ja durch Schweinepest, Rinderwahnsinn und Vogelgrippe auf die gegenwärtige Virusgefahr vorbereitet sind.

Liebe Schwestern und Brüder, niemand sollte in Panik verfallen. Und diese Panik zeigt sich beim Kauf von Klopapierrollen, Spaghetti und Fusilli, von Dosen mit geschälten Tomaten. Sie zeigt sich an den Fernsehzuschauern und Home Office Nutzern, die ihre innere Unruhe nicht zugeben wollen und wie gebannt ihre Zeit mit dem Blick auf Fallstatistiken und Sterblichkeitsraten verbringen. Das unsichtbare Virus hinterläßt langsam Spuren in Herz und Seele. Ungeduld begleitet stets beginnende Panik als unerwünschte Nebenfolge. Es ist nicht leicht, sich einen Weg von der globalen Statistik der Fallzahlen, täglich von der Johns Hopkins University aktualisiert, zur schroffen Opfertheologie des Hebräerbriefs zu bahnen, verfaßt von einem unbekannten Theologen am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts.

2.

Mir hat ein kurzer, lakonischer Satz des Turiner Philosophen Maurizio Ferraris geholfen, notiert im besonders virusgeschädigten Italien.  Er publizierte vor ein paar Tagen eine Reihe von Notizen über Quarantäne, Ausgangssperre und Corona-Viren. Er schrieb lakonisch: „Ums Leben geht’s, nicht ums Überleben.“ Ich bin mir gar nicht sicher, ob er das in einem christlichen, theologischen Sinn gemeint hat, aber das scheint auch nicht wichtig.

Leben meint nicht nur bloße Existenz, ein Dahinvegetieren, es braucht, um angemessen gestaltet zu werden, Qualitäten, Werte, einen bestimmten Sinn. In der Angst vor Ansteckung und in der Isolation gehen solche Werte und Qualitäten schnell verloren. Die italienischen Bürger, keineswegs alle nachdenkliche Philosophen, sind diesem drohenden Verlust in einer wunderbaren Aktion begegnet, die sich über die sozialen Medien schnell in aller Welt verbreitet hat. Sie verabredeten sich, zu einer bestimmten Uhrzeit abends auf den Balkon hinauszutreten und gemeinsam füreinander Musik zu machen, singend und spielend, mit und ohne Instrument. Von der Opernarie (Nessun dorma aus Puccinis Turandot) über Schlager (Azurro von Adriano Celentano)  und Italo-Pop (Felicità von Al Bano und Romina Power) bis zur Nationalhymne (Fratelli d’Italia von Michele Novaro) war alles dabei. (Vorsorgliche Warnung: In Krisenzeiten muß man nicht unbedingt über Musikgeschmack streiten.)

Lieder helfen in Wertfragen zur Besinnung. Wer anfängt, so nach Qualitäten, Werten und Sinn im Leben zu forschen, kommt von der musikalischen Bekräftigung der Balkon-Solidarität schnell zu tieferen und drängenderen Fragen. Über Quarantäne und Isolation, die durch das Virus bedingt sind, ist das Bewußtsein für die Passionszeit beinahe verloren gegangen. Leben geht nicht auf in Shoppingtouren, Torjubel, Restaurantbesuchen und zwei Fernreisen pro Jahr. Leben ist nicht zu haben und zu denken ohne Krankheit, Gewalt, Ungerechtigkeit, Haß und Demütigung. Passionszeit heißt: Leben ist nicht zu haben und zu glauben ohne ein Kreuz. Nicht ohne das Kreuz.

Die sehr kurze Passage des Predigttextes im Hebräerbrief sagt etwas über den Sinn des Lebens, der nur in Gegensätzen werden kann. Drei davon bestimmen seine Theologie: Innen und Außen, Gegenwart und Zukunft, Priester und Opfer. Ich will versuchen, liebe Schwestern und Brüder, Ihnen diese drei Gegensätze virologisch und theologisch zu deuten.

3.

Die Raumperspektive von Innen und Außen: Im Moment müssen wir leider alle drinnen bleiben. Grenzen, Geschäfte und Gaststätten sind geschlossen. Das ist alles richtig so, aber es liegt darin auch die große Gefahr, andere Menschen auszugrenzen. Was Corona angeht, so machen sich Schuldzuweisungen breit: Die Chinesen haben nicht aufgepaßt. Der Barkeeper in der Diskothek von Ischgl hat nicht aufgepaßt. Wer abgrenzt, erzeugt eine Solidarität nach innen und eine Distanzierung nach außen.

Das ist eine alte psychologische Technik, Sündenböcke für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen und von den eigenen Fehlern abzulenken. Wer krank wird und leidet, sucht stets nach einem bestimmten Sinn dafür. Sie erinnern sich: Leben will bewertet, mit Werten versehen sein. Was die Gegenwart von früheren Gesellschaften unterscheidet, sind die enormen medizinischen Erkenntnisse, die wir nutzen können, auch wenn sie noch nicht ausreichen, eine ausbrechende Epidemie im Keim zu ersticken. Früher kam Gott als Verursacher von Krankheiten in den Blick: Das Virus als Strafe Gottes! Oder Fremde, Außenseiter und ganze Volksgruppen wurden zur falschen Verantwortung gezogen, und das zog eine Geschichte von Hexen-, Juden- und anderen Verfolgungen nach sich, auf die das Christentum nicht stolz sein kann. Die allzu einfachen Erklärungen verdecken häufig, daß es keine Erklärung gibt. Krankheiten und Epidemien können völlig sinnlos sein, und das muß jeder aushalten.

Im Hebräerbrief scheint dieser alte Gegensatz auf, wir, die drinnen sind, haben es gut, und die da draußen sollen auf den Schutz von Stadtmauern, Gemeinsinn und Solidarität gefälligst verzichten. Aber dieser geläufige Gegensatz zwischen Innen und Außen wird dadurch gebrochen, daß der leidende Christus draußen bleibt, im wahren Sinne des Wortes bei den Außen-Seitern steht. Nicht bei der schweigenden Mehrheit, nicht bei den happy few, nicht bei der neuen Mitte der Gesellschaft. Jesus steht draußen, außerhalb, bei den Ausgeschlossenen, Ausgegrenzten, bei den abgelehnten Asylbewerbern. Ihm wird Aufenthaltserlaubnis in Stadt und Gesellschaft verweigert.

4.

Die Zeitperspektive von Gegenwart und Zukunft: Im Hebräerbrief steht dafür ein Satz, der Eingang gefunden hat in die Liturgie von Trauergottesdiensten: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Leben ist kein Dauerzustand wohnlicher Gegenwart, kein Mensch besitzt auf dieser Welt dauerndes Bleiberecht. Leben ist statt dessen vom ersten Schrei bis zum letzten Seufzer in Bewegung und Veränderung, ein Prozeß des Erwachsen- und Altwerdens bis zum Sterben. Deswegen paßt zum Leben eher das Bild der Wanderer, der Pilgernden und Reisenden als das Bild der seßhaften Siedler, die es sich bequem im Rhythmus der Jahreszeiten und des Alltags eingerichtet haben. Leben ist auf Zeit bezogen – und damit auf Vergänglichkeit und Tod. Gerade wegen des Todes, den niemand durchschauen und zu Ende denken kann, bleibt Leben ungewiß, riskant und vor allem rätselhaft.

Es genügt nicht, sein Leben in angenehm unterhaltender Gegenwart zu führen: Ein Spaziergang in der Abendsonne, der Blick auf die gegenwärtig blühenden Magnolien, das Glas Riesling am Abend reichen nicht aus. So schön solche Augenblicke sein mögen, sie vergehen. Ohne einen glaubenden Blick in die Zukunft, ohne die Frage nach dem Tod und dem Danach kommt kein Leben aus. Und, so der Hebräerbrief, das Leben in der Zukunft wird das Leben der Gegenwart übertreffen. Ewigkeit überbietet Gegenwart. Wer diese Ewigkeit mit dem Fernglas der Vernunft betrachtet, der sieht in der Vergrößerung nur Zufall und Zerstörung. Hoffnung keimt erst für den auf, der mit den Augen des Glaubens nach vorne schaut.

5.

Die Perspektive von Priester und Opfer: Wer Opfer bringt, vollzieht schwierig zu deutendes Ritual. In der Antike bekam ein Priester im Tempel eine Gabe, ein Lamm oder ein paar Gramm Weihrauch, und der opfernde Grieche oder Römer erhoffte sich davon, daß der betroffene Gott den Zufall des Lebens in die erwünschte Richtung lenkte. Opfer sollten die Götter gnädig stimmen. Das klappte allerdings nicht immer. Priester waren Vermittlungspersonen: Sie konnten Ratschläge geben, Enttäuschungen abmildern, durch Opfererfolge Aufmerksamkeit erzielen. Allerdings galt schon für die Antike: viele Götter, viele Opfer, große religiöse Konkurrenz. So entstanden die entsprechenden Unsicherheiten, den Zufall (sprich: den Willen der Götter) entsprechend der eigenen Wünsche zu kalibrieren.

Im Hebräerbrief ist die religiöse Konkurrenz über die Beeinflussung des göttlichen Zufalls aufgehoben. Für ihn gilt: Nur Jesus Christus vollzieht einen kosmologischen, universalen Tempeldienst. Jesus Christus ist der eine Priester. Er bringt Leiden und Krankheit, Schwäche und Elend der bedürftigen Menschen vor Gott. Jesus Christus ist das eineOpfer. Er opfert sich selbst, um zu retten, um den Menschen Erlösung und Heil, Gottes Reich zu bringen. Das ist so ungeheuerlich und unbegreiflich, daß es nicht innerhalb der biederen Mauern konventioneller Gesellschaft stattfinden kann. In den Kategorien von Tausch, Vernunft, Solidarität oder gemeinsamem Wachstums läßt sich dieses Geschehen und diese Tat nicht verrechnen und unterbringen. Ich bin überzeugt, es läßt sich im Grunde auch nicht vernünftig begreifen. Es braucht dafür das Nachdenken in Meditation und Gebet, wie es der Passionschoral vorschlägt: „Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken,/ mich in das Meer der Liebe zu versenken,/ die dich bewog, von aller Schuld des Bösen/ uns zu erlösen.“ (EG 91,1) Liebe Schwestern und Brüder, wir haben länger als eine Predigt Zeit, über das Passionsgeschehen nachzudenken, es muß in dieser kurzen Ansprache nicht alles gesagt werden. Entscheidend im Moment ist das Ergebnis: In Jesu Opfer- und Priesterdienst ist alles für den Glauben Notwendige schon getan. Die ganze Welt ist schon erlöst. Der erwähnte italienische Philosoph hat auch darüber geschrieben in seinen Notizen: „Wenn es ums Leben geht, muss am Ende auch ein Sieg des Lebens stehen – eine neue Lust, zu leben und zu schaffen.“ Glauben und Philosophie vereinen sich darin, daß sie den Sieg des Lebens betonen. Aber der (christliche) Glaube geht über die Philosophie hinaus: Im Sieg des Lebens sieht er nicht nur die Rückkehr zu Normalität, Gemeinschaft, Händeschütteln, Umarmungen, Theateraufführungen und Fußballspielen. In Christi Kreuz und Auferstehung hat sich die ganze Welt grundlegend verändert. Sie ist für das Reich Gottes geöffnet worden.

In diesem Reich wird es keine Stubenhocker mehr geben.

Amen.

 

 

Nachbemerkungen

Wer sich Beispiele für die erwähnte Balkonmusik in Italien ansehen möchte, kann unter diesem Link nachschauen: https://www.youtube.com/watch?v=2itfieedKys

Die Corona-Notizen des italienischen Philosophen finden sich unter dieser Angabe: Maurizio Ferraris, Liebe Leute, wollt ihr denn ewig leben?, NZZ 19.3.2020, https://www.nzz.ch/feuilleton/wir-werden-das-coronavirus-ueberleben-notizen-aus-der-quarantaene-ld.1547125

Theologisch hilfreich fand ich den Artikel: Henrike Frey-Anthes, Art. Krankheit und Heilung (AT), o.O. 2007, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/24036/

 

 

 

PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

 

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.

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